Einhörnchen

17. Oktober 2020 at 03:06

Weshalb werden nach dem Aufwachen von vielen Aufgewachten die Bücher so flach? Dann gibt es plötzlich Weisheiten und Wahrheiten und wasweißich – Zahlenmagie und Einhörnchen und so′n Kram. Das ist doch kein Aufwachen! McKenna ist aufgewacht. Seine Bücher bleiben aufgewacht. Castanedas Schriften sowieso.

Die Ausführungen eines Aufgewachten dienen unter anderem dazu, eigene Erkenntnisse zu erweitern, zu verifizieren und vom inneren Erkenntnisbereich ins Alltagsleben zu übertragen. Das einzige, was ein Aufgewachter hierdurch möglicherweise für einen anderen erreichen kann ist, in dem Anderen einen winzigen Funken der Sehnsucht zu entzünden. Es kann hierbei nicht wirklich um die Absicht gehen, die LeserInnen oder ZuhörerInnen mögen die Inhalte verstehen; denn ein rein rationales Nachvollziehen gibt keine wirkliche Erkenntnis.1 Es kann nur dieser Funke entzündet werden. Dieser Funke kann nur wachsen, indem jemand dann seinen Fokus auf das Begreifenwollen gerichtet hält und sein eigenes Leben, sein eigenes Sein nach diesem Funken ausrichtet. Denn ausschließlich indem jemand anfängt, sich selbst, sein Denken und Handeln in Frage zu stellen, kann er oder sie beginnen, sich weitere Bewußtseinsbereiche zu erschließen. Es wäre illusorisch zu glauben, ein Anderer könne mit seinen Ausführungen auch nur irgendjemandem zum Aufwachen verhelfen. So funktioniert das Aufwachen nicht. Das Aufwachen ist und bleibt eine Auseinandersetzung mit dem falschen Selbst, mit der Identifikation über die Zweitpersönlichkeit, und ist von daher eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Denk-Gebäude. Es ist daher immer und überall eine zutiefst persönliche Erfahrung.

Weshalb bleiben an diesem Punkt so viele bei den „Einhörnern“ stecken?2 Vielleicht, weil sie eine innere Erfahrung gemacht haben, die „etwas“ in ihnen angetriggert und ein kleines Fenster zu erweiterten Bewußtseinsbereichen eröffnet hat. Doch es ist, wie Don Juan sagt:3 Haben wir niemanden, der uns unaufhörlich in unserer Entwicklung weitertreibt (z.B. einen aufgewachten Lehrer), so neigt die menschliche Kondition dazu, sich zu seinen Erreichungen zu gratulieren, in rosarote Wonnegefühle zu versinken und dort dann stehenzubleiben. Man glaubt dann, man hätte etwas Großartiges erreicht, wobei man doch lediglich ein wenig Glimmer durch einen winzigen Spalt der Türöffnung zur Schatzkammer wahrgenommen hat. Und auf Basis des rosaroten Gefühls und dem blendenden Glanz, den jemand für einen kurzen Augenblick erhaschen konnte, werden dann entsprechend neue Gedankengebilde errichtet. Es ist der Anfang davon, anstatt tatsächlich seine Bewußtheit zu erweitern, sich aufgrund von „Flitter“ und „Halbwahrheiten“ in irgendwelchen anderen Trakten unseres großen Spukhauses der dualen Wahrnehmungsbereiche zu verlaufen. Mit Erkenntnissen über das Bewußtsein hat dies eher wenig zu tun, sondern unsere duale Sichtweise wird hierdurch auch in die anderen Wahrnehmungsbereiche weitergetragen.

Ich kann deshalb nur schlußfolgern, daß all jene, die einen kurzen Einblick in andere Bewußtseinsbereiche erhascht haben und sich vielleicht tatsächlich für einen kurzen Moment im aufgewachten Zustand befanden, irgendwoanders hin abgebogen sind. Wieso fehlt hier jener Stachel der Durchdringung? Vielleicht ist es eine Frage davon, wie tief die Disruption des Aufwach-Momentes tatsächlich die übliche Sichtweise der eigenen Ich-Vorstellungen in der Lage war zu zerstören. Denn unser Denken, unsere immense Identifikation mit den Mechanismen der Zweitpersönlichkeit, ist darauf ausgelegt, das eigene gewohnte Selbstbild sofort wieder zu kitten nach solch einem Erlebnis. Entweder war also die Durchtrennung zur Ich-Identifikation nicht komplett oder man ist in die Fallgrube einer erneuten Identifikation gefallen, die wiederum nichts weiter tut, als ein weiteres „falsches Selbst“ zu nähren, wodurch wiederum die eigene Wichtigkeit durch ein überzogenes Selbstbild gestärkt wird. Lediglich die Inhalte der Gedankenbeschäftigung haben sich verändert.

Nur so kann ich mir erklären, daß jemand, der doch ein Aufwacherlebnis hatte, wieder in solch diffuse Bereiche abgleitet. Oder dem Glauben unterliegt, Dinge wie Einhörner oder Zahlenmagie würden auch nur irgendjemandem zum Aufwachen verhelfen. Nungut, da auch „aufgewachte Bücher“ ebensowenig zum Aufwachen verhelfen wie Einhörner, ergibt sich hier für den nichtaufgewachten Sucher keinen Unterschied. Denn solange er selbst nicht aufgewacht ist, verbleiben sämtliche Aussagen auf der Basis eines Wunschglaubens, irgend ein anderer möge – hoffentlich – mit seinen Ausführungen „Recht behalten“.

Betont wird in derlei Zusammenhängen auch stets das „wohlige Gefühl“!4 Nirgendwo bei all diesen Ansätzen geht es im Kern darum, sich mit den eigenen Denk- oder Bewußt­-seinsstrukturen auseinanderzusetzen. Denn dies wäre eine Arbeit am falschen Selbst, die anstrengend ist, nicht besonders lustig und einen mit seinen eigenen verhafteten Glaubensätzen in Kontakt bringt. Nichts hieran ist „kuschelig“, rosarot oder sonstwie fluffig! Es liegt hier insgesamt der Versuch zugrunde, das Selbst nach wohligen Gefühlen auszurichten und hierbei die eigentliche innere Auseinandersetzung zu überspringen. Das kann und wird niemals funktionieren! Es bestärkt obendrein die Falschannahme, das Aufwachen sei letztlich ein Ankommen in so etwas wie einer Befindlichkeit (rosarotes Gefühl). Es ist ein Versuch, die innere Auseinandersetzung auszusparen, vor der jedes Ich zurückschreckt, denn im Kern weiß unsere Ego-Struktur, daß es um die Zerstörung der eigenen illusorischen Ich-Identität geht.5 Es nutzt jede Möglichkeit, dem zu entkommen.

Und das ist der Moment, wo mir dann innerlich stets der Hut hochgeht. Nicht, daß die Leute gern ein wohliges Gefühl haben möchten – wer möchte das nicht?! –, sondern daß von derlei Lehren propagiert wird, die Erlangung eines entspannten Wohlgefühls sei so etwas wie das Aufwachen oder gar Bewußtseinsentwicklung! Doch weil alle Lehrenden, die auf solch einer Schiene reiten dies ganz offensichtlich nicht erkennen, wird in Bezug auf das Aufwachen der Irrglaube in die Welt gesetzt, es gehe hierbei um die Erlangung einer bestimmten Befindlichkeit! Dies zeigt mir, daß Leute, die in einer solchen Ausrichtung und mit derlei Themen unterwegs sind, das Aufwachen nicht begriffen haben können und vor allem ihre eigene Ich-Struktur und den Zusammenhang, den diese mit unserer Identifikation und daher Seinsweise hat, nicht ausreichend durchleuchtet haben.

Es hört nie auf. Die permanente Auseinandersetzung mit den eigenen Ich- und Bewußt-seinsstrukturen und welche Auswirkungen diese auf mein Leben haben, sie hört nie auf. Auch beim oder nach dem Aufwachen nicht! Und das ist eine weitere Illusion, der so viele unterliegen: man sei nun mit dem Aufwachen irgendwo „angelangt“, und das war′s. Für sie scheint das Aufwachen tatsächlich vordergründig aus jenem wohligen Gefühl zu bestehen, das direkt nach dem Aufwachen zwar sehr präsent ist, aber sie scheinen total vergessen zu haben, was genau zum Aufwachen geführt hat; auch scheinen sie die Weiterentwicklung des eigenen Bewußtseins zu vergessen. Sie bleiben stehen, treten auf der Stelle ohne es zu merken. Mit dem Aufwachen oder einer Bewußtseinsentwicklung hat dies allerdings herzlich wenig zu tun. Denn das Aufwachen ist und bleibt ein brutaler zerstörerischer Prozeß, der von jedem Einzelnen persönlich durchlaufen werden muß.6 Auch kann die innere Freiheit (Aufwachen, Totalität des Selbst) unmöglich eine Befindlichkeit sein!

Der Auslöser dieser ganzen Thematik war wahrscheinlich, als ich gestern mal wieder im Netz geschaut habe, was meine früheren AutorInnen, die alle einen Prozeß des Aufwachens durchlaufen haben, jetzt so machen. Und ganz gleich, bei wem ich hinschaue, regt sich in mir Enttäuschung. Hängengeblieben bin ich bei einem Foto einer der ehemaligen Schülerinnen, auf dem sie im Indianerlook viele Federn in den Händen hält. Sie gibt jetzt z.B. Kurse für Wholeness, für das Ganzheitsempfinden. Die letzten Bücher von einer anderen handelten vom Einssein mit der Natur, alten Ritualen und Heilpraktiken. Ein weiterer schreibt Bücher über die Lebenszahl und gibt Seminare darüber, wie man einen Lehrer findet oder zu einer „aufgewachten Lebensweise“ gelangt. Undsoweiter. All diese Leute haben ein Aufwach-Erlebnis gehabt! Haben sie denn alle den eigentlich wirklich essentiellen Knackpunkt vergessen oder womöglich erst garnicht erkannt, der letztlich das Aufwachen herbeiführt?

Sie haben auf Anweisung ihres Lehrers z.B. ein Mandala hergestellt, an dem sie zwei Wochen ununterbrochen gearbeitet haben; als es fertig ist und in all seiner Perfektion und Schönheit vor ihnen liegt, kommt der Lehrer und spaziert mitten durch das Mandala, zerstört es. Der Schüler hat ein Buch über seine neuesten Erkenntnisse in seinem Prozeß des Ringens um das Aufwachen geschrieben – zum Teil als Anregung von seinem Lehrer – und zeigt es ihm stolz; der Lehrer aber beachtet es nicht und wirft es sozusagen ins nächste Feuer. Die Schüler erledigen Aufgaben, die ihre Lehrer ihnen aufgetragen haben – und werden dann zum Teil gerügt für die Erledigung der Aufgabe. Und so weiter. All die Berichte der SchülerInnen über ihren Aufwach-Prozeß sind vollgepackt bis oben hin mit derlei Beispielen. Und warum ist das so? Don Juan bringt es auf den Punkt: Das einzige, was ein Lehrer jemals tun könne, um seinen Schüler anzuspornen, um ihn weiterzubringen sei, Angriffe auf die „eigene Wichtigkeit“ des Schülers zu führen, auf das Selbstbild, das Ego, mit dem einzigen Ziel die Identifikation mit dem falschen Selbst zu zerschlagen!7

Es sind gerade eben nicht all die Rituale, die die SchülerInnen oft lernen, auf die es ankommt, denn diese dienen lediglich dazu, einen bestimmten Fokus oder eine Konzentration aufrechtzuerhalten, wobei das Tagesbewußtsein und der innere Dialog weitestgehend ausgeschaltet werden sollen. Das ist der einzige Zweck eines Rituals! Doch nach ihrem Aufwachen scheinen all diese Leute zu glauben, irgendwelche Rituale, Vorgehensweisen, Übungen, Abläufe hätten ihnen das Aufwachen beschert. Nichts ist ferner von der Wahrheit. Kein einziges Ritual, keine Übung oder ein Handlungsablauf beschert uns das Aufwachen! Wäre dem so, wäre die Menschheit seit Jahrhunderten aufgewacht.

Man muß wissen, was das Aufwachen bedeutet: nämlich den Fokus von der eingefleischten Identifikation mit unserer Zweitpersönlichkeit abzuziehen – von allem, was wir glauben zu sein! Man muß wissen, daß das Aufwachen die Zerstörung der eigenen liebgewonnenen Identität bedeutet. Man muß wissen, daß das Aufwachen erst den Beginn (!) der eigentlichen Bewußtseinsreise darstellt. Und man muß wissen, daß nach dem Aufwachen die Mechanismen der Zweitpersönlichkeit (des Ego-Ankers, der Wunsch nach einer Identifikation) auch weiterhin greifen und uns stets in diesen Fokus zurückziehen!

Habe ich ein Aufwach-Erlebnis und versuche dies dann in meinen Alltagsfokus zu ziehen oder mit dem Verstand zu begreifen, habe ich meinen Fokus längst schon wieder in die falsche Blickrichtung gelenkt. Das Aufwachen hat nicht das Geringste mit unserem Alltagsfokus zu tun, denn es transformiert diesen. Sobald ich versuche, mein Auf­wach­erleben mit meinen Alltagsgedanken zu erklären und in Übereinstimmung zu bringen, habe ich bereits verloren. Um das Aufwach-Erlebnis weiterzutreiben, wäre es notwendig, in die andere, die neue Richtung zu schauen, statt in die gewohnte, herkömmliche. Es ist notwendig, sich auch weiterhin der Fallen des Ego-Ankers bewußt zu sein und von daher stets die eigenen Gedanken und Handlungsweisen auch weiterhin im Blick zu haben und permanent zu hinterfragen! Tu′ ich das nicht, züchte ich mir erneut eine Zweitpersönlichkeit heran mit einem Identitätsfokus, der sich nun auch noch bezüglich der spirituellen Bereiche überlegen und wieder ach so wichtig fühlt…

(Spax  17.10.20)


Siehe ergänzend folgende Beiträge für den Aspekt…

  der Ratio:  Der Wert des Verstandes
  des Aufwachens:  Die Schwelle des Aufwachens
  des wohliges Gefühls:  Nüchternheit oder Glückseligkeit?
  der Gedanken:  Gedanken-Schraubstock
  des Spukhauses:  Unser Spukhaus
  des Egos:  Die Geburt des Ego

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Fußnoten

  1. Siehe hierzu auch den Beitrag Der Wert des Verstandes.
  2. Die Einhörner sind hier als Synonym zu verstehen für viele Bereiche, die zur Zeit als „spirituell“ gelten – unter anderem Feen, Engel, Rituale, gesunde Ernährung, „Sternenkinder“, Channelings usw. Es ist ein sehr weites Feld, über das ich häufiger schon geschrieben habe. Gegen die Beschäftigung mit derlei Themen ist grundsätzlich nichts zu sagen; aber es bedeutet keinesfalls, daß es mich zu einer „spirituelleren“ Person macht! Denn das gesamte Leben mit all seinen Bereichen ist grundlegend „spirituell“, eben weil es immer und überall vom Bewußtsein gesteuert wird.
  3. Don Juan war der spirituelle Lehrer von Castaneda. Die Gruppe der Seher um Don Juan bezeichneten sich häufig als „Krieger“ oder „Zauberer“.
    Hier zitiert aus Castaneda: The Power of Silence: Further Lessons of Don Juan, Simon and Schuster 1987, 270 (deutsch: Die Kraft der Stille).
  4. Siehe hierzu auch den Beitrag  Nüchternheit oder Glückseligkeit?.
  5. Das Ego kann nicht wirklich „zerstört“ oder aufgelöst werden, wir benötigen es für unser physisches Dasein. Es ist jedoch notwendig, dem Ego die künstliche Krone zu nehmen, die wir ihm aufgesetzt haben und somit dessen Kontrolle über unsere Gedankenprozesse zu beschneiden.
  6. Siehe hierzu auch den Beitrag Die Schwelle des Aufwachens.
  7. Castaneda: The Power of Silence: Further Lessons of Don Juan, Simon and Schuster 1987, 278 ff. (deutsch: Die Kraft der Stille).