Carlos Castaneda – eine Bewußtseinsreise

Ca­sta­ne­da ist für mich her­aus­ge­ho­ben von al­len an­de­ren spi­ri­tu­el­len Er­fah­rungs­be­rich­ten. Denn Ca­sta­ne­das Er­fah­rungs­be­richt en­det nicht – wie bei den meis­ten – mit dem Er­leb­nis des Auf­wa­chens, son­dern be­ginnt hier. Ca­sta­ne­das Be­richt ist das Rin­gen dar­um, die­se Er­fah­rung zu ver­ste­hen, wel­che Aus­wir­kun­gen sie auf sein Be­wußtsein hat und wie er lernt, das Wis­sen, wel­ches hier­mit ver­bun­den ist, mit sei­nem All­tags­be­wußt­sein zu ver­bin­den – ei­ne äußerst kräfte­zeh­ren­de ver­zwei­feln­de An­ge­le­gen­heit. Zeit­gleich be­steht sein wei­te­res Ler­nen un­ter Don Ju­an dar­in, selbst zu ei­nem Se­her zu wer­den – zu je­man­dem, der Ener­gie di­rekt wahr­neh­men kann und die­ses Wis­sen adäquat zu nut­zen weiß.

Der nächs­te Schritt nach dem „An­hal­ten der Welt“ war das „Se­hen“. Da­mit mein­te Don Ju­an das, was ich als „Rea­gie­ren auf Wahr­neh­mungs­rei­ze ei­ner Welt außer­halb der Be­schrei­bung, die wir als Rea­lität zu be­zeich­nen ge­lernt ha­ben“, klas­si­fi­zie­ren möchte.
(Rei­se nach Ixt­lan, S. 13)

Hier­in liegt der Haupt­grund, wes­halb Ca­sta­ne­da so um­strit­ten ist und so schwer zu ver­ste­hen. Zwar läßt er sich gut le­sen, weil sei­ne Bücher von sei­nen vielfälti­gen aben­teu­er­li­chen Er­leb­nis­sen han­deln so­wie sei­nem Rin­gen dar­um, die­se zu ver­ste­hen, doch die da­hin­ter­lie­gen­den Leh­ren ent­zie­hen sich dem Le­ser noch mehr als ihm; denn während Ca­sta­ne­da zu­min­dest ahnt, wo­nach er Aus­schau hal­ten muß und Rück­mel­dung von Don Ju­an erhält, ver­strickt der Le­ser sich in der fremd­ar­ti­gen Ter­mi­no­lo­gie und Vor­ge­hens­wei­se die­ser Zau­be­rer.

Seit tau­sen­den von Jah­ren ha­ben die Zau­be­rer in Me­xi­co in Grup­pen ihr Wis­sen wei­ter­ge­ge­ben und stets er­wei­tert. Sie wa­ren in der La­ge, durch ih­re Se­her-Fähig­keit Ener­gie di­rekt wahr­zu­neh­men. Die Grup­pen be­stan­den idea­ler­wei­se aus bis zu 16 (oder mehr) Schüle­rin­nen und Schülern, die die nächs­te Ge­ne­ra­ti­on bil­de­ten, so­wie ei­ner Leh­rer-Grup­pe mit eben­so­vie­len Mit­glie­dern. Er­klärtes Ziel war, das ei­ge­ne Be­wußtsein so weit zu ent­wi­ckeln, daß sie in der La­ge wären, an­statt einen „nor­ma­len Tod zu ster­ben“, sich selbst di­rekt in das Nicht­phy­si­sche zu trans­for­mie­ren.1

Der Be­griff „Zau­be­rer“, den sie für sich wähl­ten, stammt aus den Anfängen die­ser Tra­di­ti­on, als der Be­griff noch tiefe­re Be­deu­tung hat­te, viel­leicht ver­gleich­bar mit dem Drui­den­tum. Das eng­li­sche Wort für „Zau­be­rer“ ist: sour­ce­rer – je­mand, der mit der Quel­le (sour­ce) ver­bun­den ist. Die ge­sam­te Ter­mi­no­lo­gie ist auf die Be­schrei­bung und Er­fah­rung ener­ge­ti­scher und be­wußtseins­tech­ni­scher Ge­ge­ben­hei­ten be­zo­gen. Nir­gend­wo sonst ha­be ich je­mals solch ak­ku­ra­te Be­schrei­bun­gen ge­fun­den für die so­zu­sa­gen „tech­nisch-me­cha­ni­schen“ Vorgänge der Be­we­gun­gen des Be­wußtseins bzw. von Ener­gie, aus der al­les be­steht.

All dies macht den Ca­sta­ne­da im Kern schwer ver­steh­bar; ne­ben der spe­zi­fi­schen Ter­mi­no­lo­gie vor al­lem die Tat­sa­che, daß er von sei­ner Be­wußtseins­ent­wick­lung nach sei­nem Auf­wa­chen be­rich­tet, was für je­man­den, der noch nicht auf­ge­wacht ist, qua­si nicht wirk­lich ver­steh­bar ist.

Auf­grund die­ser Ge­ge­ben­hei­ten ist es not­wen­dig, den Ca­sta­ne­da in chro­no­lo­gi­scher Rei­hen­fol­ge zu le­sen. Denn vie­le der Be­griff­lich­kei­ten und wel­cher Sinn sich da­hin­ter ver­birgt, wer­den je­weils dort er­klärt, wo sie ei­ne Re­le­vanz ha­ben. Und während Ca­sta­ne­da mit sei­nen Er­leb­nis­sen ringt, ver­tieft sich sein Ver­ste­hen und Verständ­nis der Zu­sam­menhänge und er­schließt nach und nach tiefe­re Aspek­te der je­wei­li­gen Be­griff­lich­kei­ten.

Bei­spiels­wei­se fin­den sich Hin­wei­se, wie Ca­sta­ne­da in Berührung mit den Tech­ni­ken des „Dre­a­ming“ kommt, in fast al­len Büchern als ver­streu­te Hin­wei­se hier und dort. Es wäre da­her z.B. fa­tal, das Buch über „Dre­a­ming“ (Die Kunst des Träum­ens) zu le­sen, weil man sich für Träume in­ter­es­siert. Denn „Dre­a­ming“ be­zeich­net bei den Zau­be­rern ei­ne be­stimm­te Tech­nik, die im An­satz zwar et­was zu tun hat mit dem, was wir heut­zu­ta­ge „lu­zi­des Träum­en“ nen­nen würden, doch ge­hen Ca­sta­ne­das Er­fah­run­gen weit darüber hin­aus; selbst wenn man die vo­ri­gen Bücher Ca­sta­ne­das ge­le­sen hat, ist die­ses Buch schwer zu ver­ste­hen.

Ein wei­te­rer Aspekt, der es er­schwert, Ca­sta­ne­da zu be­grei­fen sind sei­ne leb­haf­ten Be­schrei­bun­gen vi­si­onärer Art – vor al­lem die Tat­sa­che, daß die­se Vi­sio­nen und Er­leb­nis­se als überaus re­al emp­fun­den wer­den. Don Ju­an er­klärt hier­zu, es sei eben­so nach­tei­lig, wenn wir un­se­re primäre Auf­merk­sam­keit auf das „Trau­mer­le­ben“, das Vi­si­onäre rich­ten (die Zau­be­rer nen­nen es „die Zwei­te Auf­merk­sam­keit), denn es sei eben­so ei­ne Il­lu­si­on wie das hartnäcki­ge Haf­ten an der Wahr­neh­mung un­se­res All­tags­be­wußtseins (Zweit­persönlich­keit). Er sagt, es gin­ge nicht dar­um, sich in wei­te­ren Zim­mern des Spuk­hau­ses un­se­rer Il­lu­sio­nen zu ver­ir­ren, son­dern das Spuk­haus zu ver­las­sen. Da aber Ca­sta­ne­da natürlich mit je­nen vi­si­onären Aspek­ten ge­nau­so ringt wie mit der All­tags­rea­lität, ist es in die­sem Punkt be­son­ders schwie­rig, ihm zu fol­gen. Denn an­ders als bei un­se­rem All­tags­be­wußtsein, wel­ches die phy­si­sche Welt für al­le ähn­lich de­fi­niert, ist doch der vi­si­onäre Be­reich sehr viel in­di­vi­du­el­ler. Es ist uns fast nicht möglich, das bild­haf­te Er­le­ben ei­nes an­de­ren wirk­lich nach­zu­voll­zie­hen oder zu be­grei­fen. Da spi­ri­tu­el­le Leh­rer je­doch viel Er­fah­rung ha­ben auch mit den vi­si­onären Be­rei­chen, in wel­chen die Ebe­ne der Ar­che­ty­pen be­hei­ma­tet ist, sind sie in der La­ge, den­noch zu se­hen, mit wel­chen Aspek­ten ein Schüler im Be­reich der Zwei­ten Auf­merk­sam­keit sich aus­ein­an­der­setzt.

Ca­sta­ne­da ist sehr viel­schich­tig. Ich ha­be sei­ne Bücher fast al­le mehr­fach ge­le­sen und je­des Mal ein noch er­wei­ter­tes Ver­ste­hen er­lan­gen können. Ich be­wun­de­re die Er­kennt­nis­tie­fe all die­ser Krie­ger/Se­her und bin dank­bar für die de­tail­ge­treu­en Be­schrei­bun­gen der ener­ge­ti­schen Me­cha­nis­men.

[Beschäftigt man sich mit Ca­sta­ne­da, stol­pert man un­wei­ger­lich über den Aspekt der psy­cho­tro­pen Pflan­zen; weil die­ser Aspekt wich­tig ist für das Verständ­nis, ha­be ich den Ab­schnitt hierüber so­wohl in die­sem Bei­trag als auch bei den Büchern an­geführt.]

In den 1970er und 1980er Jah­ren wur­den die Bücher von Ca­sta­ne­da als „Ge­heim­tip“ über­all her­um­ge­reicht. Schwer­punkt­the­ma bil­de­te hier­bei vor al­lem die de­tail­lier­te Be­schrei­bung sei­ner vi­si­onären Er­leb­nis­se, die der Ein­nah­me von Peyo­te2 (Kraft­pflan­ze, Power-Plant) zu­grun­de­la­gen. Peyo­te und folg­lich auch Ma­ri­hua­na (ne­ben wei­te­ren Sub­stan­zen) wur­den als „be­wußtseins­er­wei­ter­te“ Sub­stan­zen ge­prie­sen – und ver­mehrt ein­ge­nom­men. Don Ju­an be­gründet sei­ne Ga­be von Peyo­te an Ca­sta­ne­da da­mit, die Ein­nah­me von Peyo­te sei ein mas­si­ver An­griff auf das All­tags­be­wußtsein (Ers­te Auf­merk­sam­keit) und da­her in der La­ge, un­se­re „nor­ma­le Welt­sicht“ tief­grei­fend zu erschüttern.3 Da Ca­sta­ne­da sehr ri­gi­de in sei­nem All­tags­be­wußtsein ver­haf­tet war, würde durch die Ga­be von Peyo­te die­ser star­re Schutz­wall, mit dem die Zweit­persönlich­keit sich übli­cher­wei­se um­gibt, erschüttert. An­de­re Schüle­rin­nen und Schüler, die geis­tig fle­xibler wa­ren, ka­men oh­ne Peyo­te aus. Don Ju­an be­tont glei­cher­maßen, daß die Ein­nah­me der­ar­ti­ger Sub­stan­zen sich nicht nur äußerst zerstöre­risch auf den Körper aus­wir­ke, son­dern gleich­falls die Ge­fahr bestünde, sich in die­sen vi­si­onären Be­rei­chen und Zuständen eben­so zu ver­ir­ren wie es beim Be­wußtsein der Zweit­persönlich­keit (des All­tags­be­wußtseins) der Fall ist. Die Ge­fahr sei um­so größer, je ri­gi­der ei­ne Persönlich­keit struk­tu­riert sei.

Im drit­ten sei­ner Bücher (Rei­se nach Ixt­lan) hat Ca­sta­ne­da sein Auf­wach-Er­leb­nis – die Zau­be­rer ha­ben einen schönen Aus­druck hierfür: „die Welt an­hal­ten“. Mit die­sem Er­leb­nis wird Ca­sta­ne­da be­wußt, daß sei­ne bei­den ers­ten Bücher nichts mit der Ent­wick­lung sei­nes Be­wußtseins oder gar dem Auf­wa­chen zu tun ha­ben und er schreibt im Vor­wort des drit­ten Bu­ches:

In bei­den Büchern ging ich von der Grun­d­an­nah­me aus, daß es, wenn man lern­te, ein Zau­be­rer zu sein, hauptsächlich auf die durch Ein­nah­me psy­cho­tro­per Pflan­zen her­vor­ge­ru­fe­nen Zustände ei­ner an­de­ren Rea­lität ankäme. […]
Mei­ne durch die­se Psy­cho­tro­pi­ca be­wirk­te Wahr­neh­mung der Welt war so bi­zarr und ein­drucks­voll ge­we­sen, daß ich an­neh­men mußte, sol­che Zustände sei­en der ein­zi­ge Weg zum Verständ­nis und Er­ler­nen des­sen, was Don Ju­an mich zu leh­ren ver­such­te.
Die­se An­nah­me war falsch.
(Rei­se nach Ixt­lan, Ein­lei­tung, S. 7; sie­he auch Buch­be­schrei­bung)

Da­her las­se ich die ers­ten bei­den Bücher Ca­sta­ne­das4 außer acht, da sie nichts mit der Kern­leh­re Don Ju­ans und dem Auf­wa­chen zu tun ha­ben – sie ha­ben auch nicht die in­ne­woh­nen­de Kraft wie die nach­fol­gen­den Bücher.

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Fußnoten

  1. 5D ist die ers­te nicht­phy­si­sche Dich­te.
  2. Kak­teen­pflan­ze, aus wel­cher ei­ne psy­cho­tro­pe Sub­stanz ge­won­nen und als ei­ne Art „Pil­le“ ver­ar­bei­tet wird (Mes­cal But­ton).
  3. Sie­he Ta­les of Power, S. 242 f.
  4. 1) Car­los Ca­sta­ne­da: The Te­a­chings of Don Ju­an. A Ya­qui-Way of Know­led­ge, Pen­guin Books 1976 [1968] (dt: Die Leh­ren des Don Ju­an). 2) Car­los Ca­sta­ne­da: Ei­ne an­de­re Wirk­lich­keit: Neue Ge­spräche mit Don Ju­an, Fi­scher Ta­schen­buch Ver­lag 1975 [1971] (engl: A Se­pa­ra­te Rea­li­ty).