Selbst-Reflektion und Paradox

1. Januar 2021 at 04:21

Meine Gedanken sind mit üblichem Zeug befaßt – was gestern war undsoweiter. Aber was macht denn den Unterschied, ob ich an Gesprächsinhalte von gestern denke und an Alltagskram oder ob ich eine neue Frage in mir entdecke aufgrund all der „inneren Auseinandersetzungen“, aufgrund von Aussagen, die ich bei meinen „Lehrbüchern“ entdecke? Naja, ersteres legt den Fokus mehr auf die Außenwelt, und die Gedanken sind von daher eine Reflektion dessen, was ich im Außen wahrnehme. Eine Außenwelt, die ich durch meinen gesetzten Innenfokus permanent erschaffe und mir unaufhörlich zurückspiegele.

Die Außenwelt: eine Rückspiegelung meines eigenen Innenfokusses. Ist es das, was Don Juan1 die „Selbstreflektion“ nennt, die unaufhörliche Beschäftigung mit dem eigenen Selbst-Bild? Wieviel „Selbst“ ist denn in dem Reflektions-Bild? Ist nicht das ganze Bild auch ein Teil meines Selbst?

Die Innenwelt: Meinen Innenfokus wahrzunehmen bedeutet, ich kann lernen, meinen Fokus anders zu setzen. Und ich kann eventuell lernen, den darunterliegenden „Grundfokus“, die allgemeine hintergründige Stoßrichtung wahrzunehmen. Oder?

Solange ich meinen Hauptfokus auf den selbst hervorgerufenen Reflektionen (Außenwelt) liegen habe, bleibt meine Wahrnehmung eine reaktive, denn ich nehme etwas im Außen wahr und reagiere darauf. Erst wenn ich meinen Fokus nach Innen kehre, habe ich überhaupt die Möglichkeit, zu erkennen, daß und in welcher Weise ich meinen Fokus ausrichte. Erst durch den Innen-Fokus werde ich mir überhaupt dieses Mechanismusses gewahr. Erst durch den Innenfokus kann ich dann ggf. lernen, diesen bewußt zu beeinflussen. Und genau das ist, was Don Juan damit meint, sich mit seinem inneren „Link“, mit seiner Verbundenheit zu und mit den Energien des Gesamtbewußtseins2 zu verbinden. Erst hierdurch vermag ich den Kopfgedanken eine Falle zu stellen. Denn nur durch meinen Innenfokus kann ich erkennen, daß ich die rationalen Kopfgedanken und damit meine Außenwahrnehmung überhaupt erst selbst erschaffen habe. Und erst mit dieser Erkenntnis erlange ich auch Einfluß hierauf.

Von daher ist es ein wesentlicher Schritt zur Selbst-Erkenntnis, den Fokus nach Innen zu legen, denn allein übers Außen ist es nicht möglich, den Mechanismus unserer Gedanken und unserer „Welterschaffung“ zu erkennen. Der Fokus auf die Außenwelt zwingt uns zu einem rein „reaktiven“ Leben – einem Leben, in dem mir „Dinge passieren“, auf die ich scheinbar keinen Einfluß habe.3

Je mehr ich meinen Fokus auf der Außenwelt liegen habe, desto mehr verstärke ich hierdurch ebenfalls meine Ego-Kräfte, denn ich gebe mit dem Außenfokus das innere Ruder aus der Hand, welches dann sofort von der Zweitpersönlichkeit übernommen wird.4 Und hier treffen wir dann auf ein Paradox, dem wir begegnen, sobald wir mit dem Gesamtbewußtsein verbunden sind: Denn sobald ich mit dem Gesamtbewußtsein/Spirit verbunden bin, ist es, als würde all mein Wollen, mein Wünschen, mein Ego, mein Ich, sich hierin auflösen. Wenn ich auf solche Weise verbunden bin, spüre ich direkt den großen Energiefluß, der alles durchströmt. Deshalb handelt es sich hierbei für unseren Denk-Kopf um ein Paradox, denn die Form des „Alltags-Wollens“, womit wir ansonsten verbunden sind, verschwindet. Statt dessen kommen wir in Kontakt mit der Flußrichtung unserer Lebensenergie (Gesamtbewußtsein), die uns stets mit sich zieht. In dieser Verbindung spüren wir die Stoßrichtung des Gesamtbewußtseins – und hierin ist kein Ego enthalten.

Dennoch gibt es auch im Verbundensein einen „Ich-Aspekt“, der letztlich eine Entscheidung trifft, in diesen Strom hineinzuspringen oder auch nicht. Diese Art des Ich-Aspektes hat jedoch nichts mit unserem Ego zu tun, sondern ist das, was ich „persönliches Bewußtsein“ oder „unseren Bewußtseinskern“ nenne. Wie ich an anderer Stelle bereits beschrieben habe,5 ist es nicht möglich, wenn man einmal in die Existenz gesungen ist, dies wieder „abzuschalten“ und sich z.B. wieder in der „Ursuppe“ aufzulösen – genausowenig, wie wir als Menschen wieder zurück in den Mutterschoß kriechen könnten. Existenz bedeutet zum einen, durchdrungen zu sein von der Energie des Gesamtbewußtseins und zeitgleich aber auch einen spezifischen Aspekt hiervon darzustellen. Ein Existierendes ist nicht das Gesamtbewußtsein, sondern geht lediglich als Aspekt hieraus hervor. Und durch diese Form der energetischen Trennung oder Spezifizierung erhält ein jedes Existierende einen Ich-Aspekt, der sich zwangsläufig als ein Getrenntes von dem Gesamtfluß erfahren kann, selbst wenn er sich zeitgleich in Verbundenheit ausdrückt. Denn nur dies ist die Definition eines Ich: eine spezifische Ausprägung vom Gesamtbewußtsein.

Allerdings ist es möglich, die Gesamtenergie/Spirit ebenfalls wahrzunehmen und zu spüren. In solchen Momenten haben wir das Gefühl, als würde sich unser Ich-Aspekt komplett hierin auflösen. Dieser Vorgang des Verschmelzens wird deshalb häufig als „die Auflösung des Ego“ oder des „Ich“ beschrieben. Doch nach wie vor empfindet „jemand“ diese Eindrücke; wir sind stets ein Aspekt des Gesamtbewußtseins, der derlei Empfindungen oder Wahrnehmungen haben kann. Doch man muß hier deutlich unterscheiden: Der Ego-Aspekt, mit dem wir in unserem Alltagsleben verbunden sind, ist direkt mit der Art und Weise unseres Denkens verknüpft und somit mit der Entwicklung unserer Identität – in einem Mechanismus, den ich „Zweitpersönlichkeit“ nenne oder „das falsche Selbst“. Der Ego-Aspekt verliert an Kraft und Einfluß, je mehr ich meinen Fokus auf innere Prozesse lege.

Und nur deshalb erscheinen uns so viele Aussagen, bei denen es um die Entwicklung innerer Prozesse geht als Paradox: Weil wir aufgrund unserer eingeübten Denkprozesse stets versuchen, sämtliche Erklärungen mit dem rein reflektiven Ego-Hirn-Aspekt in unserer erlernten Logik zu verstehen oder zu interpretieren. Das eigentliche Erleben, aus dem die Informationen oder Erkenntnisse stammen, hat jedoch nichts zu tun mit unseren Ego-Kopf-Interpretationen, sondern resultiert aus einem direkten Begreifen durch direkten Kontakt mit der Energie des Gesamtbewußtseins.

Die Schwierigkeit bei der Erklärung innerer Prozesse oder auftretender scheinbarer Paradoxe ist vorwiegend ein „Übersetzungsproblem“: Es werden für die Erlebnisse beider Erfahrungs-Welten – innerer wie äußerer – dieselben Begriffe verwendet; und das Ego-Hirn kann und muß die Worte in seiner eigenen erlernten Logik verstehen und einordnen. Erst wenn jemand selbst Erfahrungen mit dem Gesamtbewußtsein gemacht hat, ist ein „Paradox“ kein Paradox mehr, sondern die Worte werden zu einer Erklärung innerer energetischer Vorgänge. Diese Erklärungen werden nicht über das Denk-Hirn aufgenommen, sondern sie werden innerlich nach-empfunden. Deshalb können Erklärungen, die sich auf innere Prozesse beziehen, nur verstanden werden, wenn innerlich dieselben Erfahrungen gemacht wurden. Es ist daher nutzlos zu versuchen, mit noch so schönen oder vielen Worten einem Ego-ausgerichteten Hirn innere Prozesse zu erklären, denn dies ist nicht möglich; der innewohnende Sinn kann ohne die zugehörige Erfahrung nicht verstanden werden. Es ist in diesem Zusammenhang lediglich möglich, eine kleine innere Sehnsucht „nach etwas Größerem“ in einem Menschen ohne diese Innenerfahrung zu erwecken.

Paradoxe sind von daher nicht wirklich Paradoxe, denn die Aussagen beziehen sich jeweils auf einen vollkommen anderen Erlebensbereich und Bezugspunkt. Deshalb werden wir, solange wir ausschließlich auf die Einbahnstraße des Hirn-Denkens ausgerichtet sind, Erklärungen über innere Prozesse nicht verstehen können. Um hier zu einem Verstehen zu gelangen, ist es notwendig, jene selbstgeschaffene innere Denk-Einbahnstraße wieder zurück zu ihrem Ursprung zu verfolgen. Und das ist die Bedeutung davon, wenn gesagt wird: „Geh nach Innen…“

(Spax  1.1.21)

Siehe ergänzend folgende Beiträge – für den Aspekt…

  reflektive Wahrnehmung : mein Kino !
  Ich-Aspekt: Wahrnehmungsgrenzen
  Bewußtseinskern: Kernschwingung
  Existenz: Existenz und Existenz (2)
  Sehnsucht: Das große Gefühl
  Identität: Gedanken-Schraubstock

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Fußnoten

  1. Don Juan war der spirituelle Lehrer von Castaneda. Die Gruppe der Seher um Don Juan bezeichneten sich häufig als „Krieger“ oder „Zauberer“.
  2. Das, was ich als „Gesamtbewußtsein“ bezeichne, nennt Don Juan oft „Spirit“.
  3. Siehe hierzu auch den Beitrag mein Kino !
  4. Unser Ego-Aspekt ist essentieller Teil der Zweitpersönlichkeit, der uns in der Dualität verankert. Der Ich-Aspekt ist meiner Wahrnehmung nach ein Aspekt von Seele/Bewußtsein/Higher Self.
  5. Siehe hierzu auch den Beitrag Existenz (2).