Ich nehme wahr und: bin

19. März 2017 at 03:28

Federn_Fraktal_SNIP_PublicDomainPicturesWie wäre denn das, wenn man nichts mehr in Bezug zu sich selbst setzen könnte? Wäre das das Ende aller Wahrnehmung? Oder gibt es dann eine Wahrnehmung, die nicht weiß, daß sie wahrnimmt? – eine Wahrnehmung ohne Ich-Gefühl; eine Wahrnehmung ohne Gedanken, nicht wissend, daß man wahrnimmt. Aber es bliebe ja dennoch Wahrnehmung, ganz gleich, ob ein Wahrnehmendes sich als ein Etwas empfindet oder nicht. Und ich würde sagen: Solange es eine Wahrnehmung gibt, besteht sie jeweils aus zwei Teilen: einem Wahrnehmer und einem Wahrgenommenen. Was ich herausfinden möchte ist, ob es noch eine andere Form des Erlebens gibt außer der Wahrnehmung eines „Gegenüber“. Zeitgleich entsteht hierdurch eine zweite Frage: Wenn ich sage, daß die Wahrnehmung immer zwei Seiten benötigt (Wahrnehmer und Wahrgenommenes), ist dies dann gleichbedeutend mit Dualität?

Dualität bedeutet vor allem, daß alles in bewertbaren Paaren daherkommt: gut+schlecht, Ja+Nein, richtig+falsch, will ich + will ich nicht. Das Bewertbare daran ist das entscheidende. Das entscheidende bei der Dualität ist, daß wir immer auf einer Wippe stehen – mal neigt sie sich in die eine und mal in die andere Richtung, mal mag ich die Erfahrung und ein andermal nicht so.

Mit dem Aufwachen verliert man das Duale. Mit dem Aufwachen landet man in dem Punkt zwischen den beiden Polen; was hier dann wegfällt ist auf jeden Fall das Bewertende – die Welt löst sich auf in einem Gefühlsrausch des Seins. Aber geht dann die Wahrnehmung weg? Nein. Ich lande in dem Dreh- und Angelpunkt der Wippe: Von hier aus kann ich zeitgleich in beide Richtungen schauen, ohne mich auf einem Teil der Wippe zu befinden oder eine der beiden Bewegungsrichtungen der Wippe zu wählen. Natürlich trifft man nach wie vor Entscheidungen, aber keine der Erfahrungen, die hieraus resultieren wird bewertet. Das ist der zentrale Balance-Punkt, in dem jede Erfahrung eine Erfahrung ist und nicht mehr irgendetwas, das mein Leben „besser“ oder „schlechter“ machen würde. Das ist der Grund, weshalb sämtliche „Lehrer des Aufwachens“ die Taten ihrer Schüler nicht bewerten: kein Lob, kein Tadel.

Grafik: Wippe (gut + schlecht)Man möchte meinen, wenn man sich z.B. auf der „Schlechter-Seite“ der Wippe befindet und sich natürlich lieber auf der „Besser-Seite“ befinden möchte, daß man auf dem Weg dorthin auch durch diesen neutralen Dreh- und Angelpunkt wandern muß. Doch hierfür fehlt uns die Wahrnehmung solange wir bewerten, solange wir alles in Gut+Schlecht aufteilen. Da man sich von einem Moment zum anderen von einer negativen in eine positive Stimmung katapultieren kann, handelt es sich auch nicht um eine lineare Bewegung; unser gesamtes Erleben findet entweder auf der einen oder der anderen Seite der Wippe statt.

Der Zustand des Aufwachens im Dreh- und Angelpunkt wird häufig auch als „Glückseligkeit“ beschrieben, als „Glücklichsein ohne Anlaß“. Doch in unserer dualen Wahrnehmung befinden wir uns grundsätzlich auf der einen oder anderen Seite der Empfindungen unserer Wippe. Und weil es schöner ist, sich gut zu fühlen als schlecht, trainieren wir unsere Wahrnehmung zum Positiven hin. Natürlich ist es angenehmer, sich in Freude und anderen positiven Empfindungen zu bewegen, aber das Aufwachen ist es nicht. Abraham1 stellen diese „Gefühlsreise“ immer als eine Art Leiter dar: Von der Depression hin zum ultimativen Glück. Zwar hat das „ultimative Glücksgefühl“ empfindungsmäßig einige Qualitäten des aufgewachten Zustandes, aber dennoch liegt es auf der einen Seite der Dualitäts-Wippe. Man ist nicht automatisch aufgewacht, bloß weil man sich „bombe“ fühlt. Das Aufwachen beinhaltet das rigorose Zerschlagen der grundsätzlich dualen Sichtweise und Wahrnehmung. Von daher dienen Abrahams Tips eher dazu, ein vermehrt glücklicheres Leben zu erlangen, aber es ist nicht das Aufwachen – auch wenn letztendlich das Resultat des Aufwachens mit derlei positiven Empfindungen einhergeht. Es ist wie Don Juan sagt:2 Ein Moment der „inneren Stille“, welche ein wesentlicher Aspekt des Aufwachens ist, kann hervorgebracht werden durch einen Moment des Erschreckens, der Angst, einer tiefen Melancholie oder Verzweiflung, nicht aber des Glücklichseins!3 Das Aufwachen ist der Stille-Punkt zwischen beiden dualen Fronten, er sitzt nicht auf der Wippe.

Grafik: Leiter (Bliss + Depression)Die Wahrnehmung verschwindet also nicht durch das Aufwachen, sie hängt sich bloß nicht mehr an all die Bewertungen von Gut+Schlecht, durch die wir unser jeweiliges Erleben definieren. Die Wahrnehmung erweitert sich, sie dehnt sich aus auf andere Bereiche des Erlebens und Empfindens. Und auch hierbei gilt: Ich bin noch lange nicht aufgewacht, nur weil ich andere Dinge als die alltäglichen wahrnehmen kann – jeder Drogenkonsument wäre sonst aufgewacht, sind sie aber nicht. Inwiefern verändert sich also meine Wahrnehmung im aufgewachten Zustand? Was sich auflöst ist die „falsche Identität“, die Zweitpersönlichkeit; denn sie beinhaltet alles Bewerten sowie hieraus resultierend sämtliche Annahmen über die eigene Person, das, was wir als Identität empfinden. Was wir verlieren, ist der Glaube und das Anhaften an die künstlich von uns erzeugte „Scheinpersönlichkeit“. Leider wissen wir vor dem Aufwachen garnicht, daß wir überhaupt so etwas haben, denn Wahrnehmung existiert ausschließlich im hundert Prozent-Zustand! Eine Aufmerksamkeit für das innere Selbst und eine andere Form der Wahrnehmung kann meist nur durch andere Ideen genährt werden. Doch freilegen muß man es schlußendlich selbst, das eigene Selbst, unseren inneren Kern.

So, und jetzt zur Ausgangsfrage: Ist es möglich, zu existieren ohne Wahrnehmung??! Durch das Aufwachen erschließen sich neue Wahrnehmungs-Bereiche, unsere Wahrnehmung erweitert sich, dehnt sich aus: Wahrnehmung von Dingen, die ich nun nicht mehr bewerte, aber nichtsdestotrotz die Wahrnehmung zum Beispiel von anderen Welten, Wesen, Energien etc. beinhaltet. Doch auch darüber kann man hinausgehen, bis man in einem vollkommen abstrakten Raum landet, in dem es weder Dinge noch Wesen gibt, sondern – ja was eigentlich? Energie, die fließt. Ja, aber selbst dies wäre ein Etwas. Ist es vielleicht folgendes: Im gänzlich verbundenen Zustand mit Allem-was-Ist löst sich die Wahrnehmung meines Selbstes auf, geht auf in etwas Umfassenderen. Doch zeitgleich bleibt ja die Wahrnehmung des Wahrnehmers – mein Gefühl von „Selbst“ – erhalten. Vielleicht nicht direkt in dem Moment des Verschmelzens, aber doch generell. Das Verschmelzen ist genau wie der Balancepunkt der Wippe: nichts bewegt sich hier – und die Preisfrage ist folglich: Was nimmt Alles-was-Ist wahr??

Jedes Existierende ist ein Partikel, ausgesandt von Allem-was-Ist, wodurch die Grenzen von Wahrnehmungs- und Erfahrungsräumen ausgelotet werden. Wie Botschafter alles Wahrnehmbaren kehren die einzelnen Partikel immer wieder „heim“, bleiben stets verbunden mit Allem-was-Ist, berichten durch ihre Wahrnehmungen von dem Wahrgenommenen. Ist dies also die Wahrnehmung von Allem-was-Ist, vom wahrnehmungs-möglichen Urgrund?

Und weiter: Was geschieht, würden alle Partikel zeitgleich sich mit Allem-was-Ist zu hundert Prozent verbinden? Existierte dann Alles-was-Ist noch? Gäbe es noch so etwas wie Wahrnehmung? Würde Alles-was-Ist platzen und zu etwas Neuem werden? Was geschieht, wenn Wahrnehmung aufhört? Geht das? Das Selbst würde sich auflösen, der Kern von allem, was uns ausmacht, denn es würde kein Wahrzunehmendes mehr geben – weder in irgendeinem Außen noch Innen! Existenz würde aufhören, denn um zu existieren benötigt man ein Etwas, das existieren kann. Und sobald ein Etwas existiert, nimmt es wahr, nämlich: sich selbst. Daher muß ich schlußfolgern, daß jegliche Existenz an Wahrnehmung gebunden ist und zwar vollkommen gleichgültig in welcher Form – ob im Dualen oder aufgewacht oder als Alles-was-Ist, dem Urgrund allen Seins und somit aller Wahrnehmung und allem Wahrnehmbaren.

So befinden wir uns doch wieder am Anfang der Rätselfrage, denn Wahrnehmung beinhaltet grundsätzlich einen Wahrnehmer und ein Wahrgenommenes, auch wenn es noch so abstrakt daherkommt, auch wenn der Selbst-Kern nur dies wahrnimmt: Selbst, bin, Existenz. Ganz gleich wie ich es drehe und wende, ich glaube nicht, daß dies wieder auflösbar ist und komme auch hier zum selben Ergebnis wie in meinem Beitrag Existenz: Existenz kann nicht in eine Nicht-Existenz übergehen, denn Wahrnehmung hört niemals auf, selbst im Selbst und der Verbindung mit Allem-was-Ist nicht.

(Spax  19.3.17)

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Fußnoten

  1. Abraham ist eine von Esther Hicks gechannelte nichtphysische Entität. Da es sich hierbei um den Ausdruck einer Gruppen-Identität handelt, sprechen sie von sich immer in der Mehrzahl.
  2. Don Juan war der spirituelle Lehrer von Castaneda. Die Gruppe der Seher um Don Juan bezeichneten sich häufig als „Krieger“ oder „Zauberer“.
  3. …[the idea of will]… It is experienced as a force that radiates out of the middle part of the body following a moment of the most absolute silence, or a moment of sheer terror, or profound sadness; but not after a moment of happiness, because happiness is too disruptive to afford the warrior the concentration needed to use the luminosity of the body and turn it into silence.” (Carlos Castaneda: The Eagle’s Gift, Arkana 1981, S. 129.)