Worthülsen
Die Seiten1 gehen gar nicht vorwärts, weil ich Hoppepferdgedanken habe. Und alles bloß Kram „von gestern“.
Ist dies nicht eigentlich jeder Gedanke? Kram von Gestern? Denn an was will ich denn sonst denken? Ich kann mir eine Zukunft träumen oder ausmalen, aber ich kann rein physisch nicht an sie denken. Wenn wir sagen, „denk doch mal an die Zukunft“, dann meinen wir damit Vorkehrungen, die wir jetzt, hier und heute treffen sollten, um eine nette Zukunft haben zu können. Aber wir können unmöglich an unsere Zukunft denken! Wir können sie lediglich aus dem Jetzt „voraus-imaginieren“.
Und deshalb habe ich diesen Gedanken gerade gehabt, daß unsere Gedanken sich eigentlich immer mit Vergangenem beschäftigen, sie können garnicht anders. Selbst ein direktes Erleben, welches im Jetzt stattfindet, ist nicht von aktuellen Gedanken geprägt, die mit dem Jetzt-Erleben zu tun hätten. Wenn ich zum Beispiel schreibe, so kann ich diesen Vorgang erst feststellen, wenn ich etwas geschrieben habe; erst nach einer Tätigkeit kann ich diese überhaupt bemerken. Sogar das „Bemerken“ gehört bereits zum kognitiven Prozeß, denn um etwas überhaupt zu bemerken, muß ich losgelöst sein von der jeweiligen Tätigkeit. Dies ist der Punkt, an dem unsere Gedanken erst einsetzen können. Selbst wenn das Erleben, welches meine Gedanken beschreiben, erst eine Millisekunde zurück liegt, so liegt es doch zurück, denn ich habe hiervon bereits einen – wie auch immer geringen – Abstand, so daß ich diesen Vorgang beschreiben kann. Auch von diesem Aspekt her sind Gedanken doch echt langweilig, oder? Unsere Gedanken sind der Staub von Gestern.
Allerdings wissen wir ohne all diese (Gedanken-)Worte nicht, was wir überhaupt erlebt haben. Nehmen wir das Beispiel vom Autofahren: ein neuer Fahrschüler hat schon davon gehört, daß man die Kupplung „langsam kommen lassen muß“, damit das Auto keinen Satz macht und abgewürgt wird. Er weiß es ganzganz genau: Er muß die Kupplung „langsam kommen lassen“, hat es hundertmal gehört. Aber ich mache jede Wette, daß ihm – wenn nicht gleich beim erstenmal, dann beim zweiten oder drittenmal – genau dies passiert: Er überspringt den „Kupplungspunkt“ und würgt das Auto ab. Und wirklich erst in genau diesem Moment weiß er, was es bedeutet, die Kupplung „langsam kommen zu lassen“. Es ist eine Erfahrung, die ihm keiner mehr nehmen kann. Das erstaunlichste ist doch, daß all sein theoretisches Vorab-Wissen über diesen Vorgang nicht das geringste dabei geholfen hat, ihm zu verdeutlichen, was genau es bedeutet, „die Kupplung langsam kommen zu lassen“. Words don′t teach;2 wir lernen ausschließlich über Erfahrungen.
Doch ohne all unsere hübschen Worte könnten wir unsere Erfahrungen nicht verstehen! Habe ich eine Erfahrung gemacht, die ich mir nicht erklären kann oder für die ich keine Worte habe, so muß ich mir Worte für dieses Erleben erfinden oder so lange warten, bis ich jemanden treffe, der dieselbe Erfahrung gemacht hat und der andere sie mir erklären kann. Beziehungsweise: Indem ein anderer sein Erleben schildert mit seinen eigenen Worten, kann ich erkennen, daß er dasselbe Erlebnis hatte, auch wenn dieser ebenfalls kein Wort hierfür hat. So gesehen passiert ein wirkliches Verstehen auf einer tieferen, einer „wortlosen“ Ebene: Man versteht genau, was ein anderer sagen will auf einer inneren intuitiven Ebene, eben weil man dasselbe Erlebnis hatte und dies über die Erfahrungsebene, die wir alle gemeinsam haben, mitteilen können. Man kann einen anderen erst verstehen, wenn man ähnliche Erlebnisse miteinander teilt.
Offenbar scheint es auch wichtig zu sein, daß wir jemanden finden, der das Erleben, welches wir gemacht haben, teilt mit uns. Indem wir jemanden haben, der uns ein Erleben spiegelt, wird es erst „real“ für uns, könnte man sagen. Erst hierdurch erhält es Bedeutung: unser Erleben ist hiermit verifiziert. Wenn uns jemand etwas erzählt, ist es genauso als würden wir eine Geschichte lesen: Mit jenen Punkten, die wir verstehen, können wir uns identifizieren. Doch auch für diese Art des Verstehens benötigen wir Worte, sie sind also nicht gänzlich „überflüssig“. Dennoch sind sie unweigerlich an das Reflektieren gebunden, sind immer etwas Beschreibendes, etwas Erklärendes. Worte sind kein Erleben. Wenn jemand uns anbrüllt oder eine Liebeserklärung macht, so sind dies zwar Dinge, die wir erleben, aber unsere Empfindungen werden nicht durch die jeweiligen Worte hervorgerufen, sondern durch die Emotion oder die Absicht, die der Sender dieser Worte ausdrücken möchte. Ein Löwe brüllt und jedes Wesen in seiner Umgebung weiß genau, was gemeint ist, er benötigt hierfür keine Worte. Direktes Erleben und Erfahren findet ausschließlich auf dieser Ebene des Austausches statt, sogar das Verstehen.
Wie mühselig es doch ist, all unser Erleben in Sprache zu übertragen, wenn man sich diese Verhältnisse so betrachtet. Ich frage mich geradezu, wozu all unsere Worte dann überhaupt nötig sind. Eine Amsel singt und drückt durch diese Tonfolgen ihre Empfindungen aus. Ein Maler malt Bilder und spricht durch diese. Wozu also all diese Worte? Weil sie ebenso ein Ausdruck sind und unserem Bedürfnis nach Ausdruck eine weitere Färbung hinzufügen.
Das lustige daran ist insgesamt, daß Worte oder Bilder oder Töne nicht wirklich zu einem Verstehen beitragen. All unsere Gedankengebäude sind kognitive Spielereien, die jedoch nicht wirklich ein Verstehen produzieren – sie sind wie Mobiles: hübsche Gebilde, die sich je nach Standort des Betrachters verändern. Ein Verstehen von Zusammenhängen erfolgt immer und ausschließlich im direkten Erleben (so wie bei dem Beispiel mit der Kupplung). Und dann benutzen wir dieselben Worte, um unser Erleben zu beschreiben, denn wir sehen keine andere Möglichkeit, einem anderen zu erklären, was wir erlebt haben: „Hey, und dann habe ich die Kupplung zu schnell losgelassen und das Auto machte einen Satz und ging aus.“ Und alle, die dieses Erleben teilen, lachen nun, weil sie das geschilderte Erlebnis verstehen; all jene, die diese Erfahrung noch nicht gemacht haben, lächeln verständnislos in die Runde.
Es ist korrekt: Words don′t teach, ausschließlich Erfahrungen bringen uns weiter. Worte sind Erklärungshülsen für ein zurückliegendes Erleben. Ein Wort oder auch viele Wörter können niemals ein Ersatz sein für das Erleben eines Sonnenunterganges – überm Meer, in der Abendstille. Doch können sie Bilder in uns hervorrufen von Dingen und Erlebnissen, an die wir uns erinnern und das Erinnern kann die Empfindungen des Erlebten zurückbringen und hierdurch ein Gefühl des Verstehens erzeugen.
(Spax 20.5.15)
Fußnoten
- Seiten = Morgenseiten.
- Worte lehren nicht.
Neueste Kommentare