Vorwurf und Hoffnung
Ich bewege mich immer zwischen Vorwurf und Hoffnung. Morgens wenn ich aufstehe, ist der erste Gedanke ein Vorwurf – „Schon wieder so spät“ lautet er meist – und aber abends, wenn ich ins Bett gehe, male ich mir aus, was ich alles erledigen will am nächsten Tag. Hiervon träume ich ebenfalls, wenn ich morgens noch im Bett liege und manchmal auch noch, wenn ich die Seiten1 schreibe. – Dinge erledigen und abhaken.
Nirgendwo auch nur entfernt eine Freude, wegen der ich für mich, für mein Leben aufstehen möcht′. Aber so wachsen wir ja alle auf, wir bekommen die Lust am Leben sowie den Tatendrang, der Richtung unserer Neugier zu folgen, aberzogen, abtrainiert. Wie soll man dann später in der Lage sein, den eigenen Interessen zu folgen?, den eigenen Interessen genügend Gewicht einzuräumen, um für sie aufzustehen? Bzw. die Talente. Meine Talente sind, was ich habe, sind mein einziges „Kapital“. Und ich kann sie nicht wertschätzen, weil ich mich nicht genügend wertschätzen kann, um aufzustehen für mich, für eine Idee.
Was es noch zeigt, dieses Beispiel ist, wie sehr wir im Kopf leben. Ich hänge mich morgens sozusagen an die erstbeste Idee. Ich schaue aus dem Fenster und die Sonne scheint und es sieht so schön aus, so verlockend. Und dann geht der Blick zur Uhr und es ist klar: Nein, um sieben stehe ich nicht auf! – Aber: wäre es nicht schön, wenn…? Und während ich all dies denke, bin ich schon wieder weggedriftet. Ich lebe nur in meinem Kopf und die Welt ist eine Kulisse.
Ich bin immer so wichtig mit meinen eigenen Sachen, so wichtig, daß ich diese nicht tun kann. Ich schotte mich selbst ab gegen alles andere, sperre alles andere aus, sperre auch mein eigenes Leben aus damit. Grenzt man sich selber ab, grenzt man alles andere aus eigentlich. Und wie schön es doch eigentlich ist – oder sollte ich sagen „war“? –, vom Herzen zu leben. Und alles zu lieben, und jeden neuen Eindruck zu umarmen, und jedes neue Abenteuer anzunehmen. Ist denn die Erfahrung, daß alles gleichrangig ist, zugleich eine Bewertung? Nein, es ist ein inneres „Wissen“. Im Verbundensein ist alles gleichrangig. Und um dennoch irgendeiner Tätigkeit einen Vorrang zu geben, haben wir unsere Talente ausgewählt (vorgeburtlich), durch die Neugier etwas zu erfahren, um einen Fokuspunkt zu haben. Und warum? Weil wir sonst untergehen in der Immensität der un-endlichen Möglichkeiten.
Die Impulse, die uns antreiben, das Eine oder das Andere zu wählen, wurden in Gang gesetzt vor Äonen, als jene Energie des Alles-was-Ist sich schüttelte und alles in Bewegung setzte – bis ins allerkleinste Detail. Es gibt immer und überall nur eine Entscheidung und es ist immer noch diejenige, die ich wähle. Immer. Ganz gleich aus welchen Gründen.
Ich könnte also ebensogut jene Person, die ich glaube zu sein, von einer umfassenderen Warte aus betrachten und mir anschauen: Wie hat diese Person ihr Leben gelebt? Was ist aus ihr geworden? Welche Personen kann ich wahrnehmen? Welcher möchte ich nachspüren? Daß wir überhaupt diese Wahl haben, uns gegen das Freudige zu entscheiden, gegen die uns innewohnende und antreibende Freude einen Kontrapunkt zu setzen, der es uns ermöglicht, andere Pfade zu kreieren – es ist nach wie vor sehr erstaunlich, daß dies überhaupt möglich ist. Aber so ist es: alles, was denk-bar ist, ist auch möglich, andernfalls könnte ich es nicht denken.
„Keine Idee, kein einziger Gedanke ist ein Joke“, sagt Ocyphius.2 Auch das stimmt natürlich. Denn all unsere Ideen und Spontangedanken sind verlinkt mit unserem Leben und unserem Ausdruck hiervon. Es ist eigentlich recht dämlich, sich zu grämen, weil man dieses oder jenes nicht hinbekommen hat, nicht abgeschlossen hat oder weshalb man sich sonst so grämt die ganze Zeit und sich all diese unnützen Vorwürfe macht. Denn in der großen Ewigkeit ist es alles dasselbe: ein Sich-Ausdrücken, ein Erfahren von Möglichkeiten, die vorhanden sind. Und wenn ich in diesem Leben zum Beispiel beruflich nicht meinem Lieblingsbild folge von einer Schriftstellerin und Künstlerin und spirituellen Beraterin, so wird es irgendwo in jener immensen Unendlichkeit genau auch jene Person geben, die mich in meinen Gedanken begleitet. Ich kann sie ja spüren, sie ist da.
Und weil ich eine freche Rotznase bin, und so gern immer alles ausprobiere, was eben nicht „stromlinienförmig“ ist, gefällt es dieser Person, die diese Zeilen schreibt vielleicht, auch grundsätzlich „gegen den Strich“ zu leben. Schlußendlich beziehen wir ja alle diesen wunderbaren Reiz, den diese 3D- und Erdenleben ausmachen exakt genau aus der Tatsache, daß wir eben nicht dem Stromlinienförmigen folgen. Es ist ein Ausreizen der „holprigen Pfade“, könnte man sagen. Denn würden alle und jeder seiner eingebauten Freude folgen, alles wäre bella und perfekt. Aber genau hierzu wollten wir einen Kontrapunkt bilden und loten durch all unser so genanntes „Fehlverhalten“ alle nur erdenklichen Untiefen aus.
Hier muß man anfügen, daß es bei dieser Art der Auslotung nicht möglich ist (!), sich permanent freudig und toll zu fühlen. Denn eben ausschließlich dadurch, daß wir gewählt haben, jene Untiefen auszuloten, die jenseitig der Freude liegen, ist es möglich, sie auszuloten! Das ist das Ding, so funktioniert unser Spiel, in das wir uns hineingedacht haben. Was soll also das ewige Gejammer, daß man nicht glücklich ist? Wir haben die Einheit und damit „das ewige Glücklichsein“ absichtlich „verlassen“ bzw. kurzzeitig unseren Fokus verändert, um etwas anderes als die Verbundenheit mit Allem-was-ist und dem hiermit innewohnenden Glücksgefühl zu erfahren. Ja, und hierzu gehört ebenfalls eine Art Langeweile, eine Art Überdruß, und grundlegend: das Ringen mit sich selbst! – weil wir uns durch diesen Entschluß und dieses Szenario permanent in einem Reibungszustand befinden.
Die Sehnsucht nach dem „ewigen Glück“ und dem Glücklichsein ist zum Einen das Wissen darum, weil wir ja als „persönliche Bewußtseine“ auf der tieferen Ebene immer und überall stets verbunden sind und diese Echos unseres nichtphysischen Existierens uns stets durchrieseln. Es ist die Erinnerung, das innere Wissen um jenen umfassenderen Seinszustand, mit dem wir stets verbunden sind, der uns irre macht und uns stets suggeriert, etwas sei „verkehrt“ oder „falsch“ oder funktioniere nicht richtig. Doch alles ist wie es soll, denn wir haben es so gewählt und so entschieden. Andererseits zieht uns dieses innere Echo einer umfassenderen Seinsweise, die immer und überall von Freude getragen ist, uns stetig in diese Richtung. Denn nichts und niemand bleibt je stehen oder verhaftet für immer im selben Zustand. Und daher quält uns jene Sehnsuchtsstimme, die immer flüstert: „Es geht besser, es gibt etwas besseres als dies.“
Ganz gleich wie man es betrachtet, so landet man doch wieder und wieder bei der einzigen lebenswerten Form: des Ausdrucks im Hier+Jetzt. Denn alles andere ist Spekulation und verhindert ein Gefühl des Lebendigseins, eben weil ich mich permanent in Spekulationen ergehe, ob irgendetwas anderes nun besser sei als jenes, welchem ich grad folge. Eintauchen ins Empfinden dieser Welt, dieses Seins – ganz gleich, welches Label ich meiner jeweiligen Erfahrung aufpappe, ob „gut“ oder „nicht so toll“, ist für die Erfahrung an sich vollkommen irrelevant. Es ist jeweils: ein Ausdruck des Möglichen, vollkommen wertfrei, denn, um den Kreis zu schließen: Alles, was ich denken kann, ist erfahrbar. Punkt.
(Spax 10.5.14)
Fußnoten
- Seiten = Morgenseiten.
- Ocyphius ist eine von Roxie gechannelte Wesenheit.
… wow das ist aber wirklich ausführlich, ähm, ich muss mir erst mal eine Woche Urlaub nehmen oder besser zwei oder soll ich kündigen um Zeit zum Lesen zu haben? Nein, schaue natürlich sofort rein 😉 Danke von der Jakana
Danke. Ich hoffe, du kannst etwas damit anfangen 🙂 Wenn der Job nix taugt, kannst du ihn ruhig kündigen, oder? 😉 Liebe Grüße, Spax
Hallo Spax, ich wollte mal fragen, wie du das mit dem Leben im Hier und jetzt verstehst? Wenn man das tut wie passiert dann Veränderung? Kann Veränderung passieren ohne dass mir vorher so ein Gedanke abgehauen ist in die Zukunft? Lass dir ruhig ein zwei Jahre Zeit für die Antwort, eilt nicht. K 🙂
Hallo Jakana Manana, nun habe ich einen etwas längeren Beitrag zu deiner Frage geschrieben: siehe „Jetzt oder Zukunft?“ Zunächst wirkt es vielleicht so, als wäre der Beitrag nicht wirklich eine Antwort direkt auf deine Frage. Doch ich hoffe, dass zum Schluss die Zusammenhänge klar werden.
Auch habe ich nun noch eine Kategorie „Community“ eingerichtet, in der ich solche längeren Antworten als Blogbeiträge poste. Daher hat es zwar nicht zwei Jahre, aber doch ein wenig länger gedauert… Ich hoffe aber, die Antwort interessiert dich noch. 🙂
Viel Spaß beim Lesen.