Sitting Buddha
Ich dachte gerade mal wieder an all die „Sitting Buddhas“ und die Frage, weshalb die Reduzierung meines Ausdruckes auf die Gedankenstille auch eine Hinderung meines tatkräftigen Ausdruckes zur Folge haben kann. Mir fallen die zehn Ochsenbilder ein, die eine Bildergeschichte als Analogie für das Aufwachen darstellen. Das achte Bild ist der leere Kreis, der die Erfahrung des Nichts repräsentiert, die Erfahrung des Aufwachens, und hiermit die „Wiedervereinigung“, die Verbindung meines Lebendigseins mit Allem-was-Ist: die Seligkeit, die hiermit einhergeht und – auch dargestellt durch den leeren Kreis – die „Auflösung“ bzw. das Erkennen der Zweitpersönlichkeit mit der Illusion dieser Maske, die wir gelernt haben zu tragen. Mit dem „Fallen ins Nichts“ und dieser Erkenntnis wird die Illusion der Zweitpersönlichkeit zerschlagen.
Die allermeisten Gurus, die in Indien oder anderswo verehrt werden, befinden sich sozusagen in diesem Stadium, in diesem leeren Kreis. Es ist dies eine so durchschlagende Erfahrung, daß man immer hier verweilen mag. Doch die Geschichte der Ochsenbilder geht hierüber hinaus und das letzte Bild zeigt – wie zu Beginn – den vormals Suchenden, wie er wiederum sein Bündel nimmt, auf Wanderschaft geht und durch die Welt zieht. Dies bedeutet vor allem, daß der nun aufgewachte Mensch sich wieder hineinbegibt in das bunte Treiben des Lebens und dort wirkt, wo seine Schritte ihn hinführen.
Nun ist dieser Mensch voll und ganz eingetaucht ins Jetzt, trägt die innere Stille wie einen Mantel und weiß, daß jeder einzelne Schritt, den er tut, ein richtiger ist: Er hat die Angst verloren, er handelt nicht mehr aus einem anhaftenden Bedingtsein heraus, sondern sein inneres Ich folgt den Schritten seiner Füße. Er spürt die Welt mehr als daß er sie sieht, denn nun ist er ein winziger Teil von ihr geworden. Und dies, so meine ich, ist der Unterschied von jenen, die den Rest ihres Lebens in „Meditationshaltung“ verbringen und an dieser Erfahrung festhalten und jenen, die diese Erfahrung als eine von vielen hinter sich lassen und weitergehen, indem sie den „Berg der Erkenntnis“ wieder heruntersteigen.
Jemand, der den „Berg der Erkenntnis“ wieder heruntersteigt, kann unmöglich Anhänger um sich sammeln, die mit leuchtenden Augen zu ihm aufschauen und ein wenig im Glanz des Gurus stehen möchten in der Hoffnung, durch dessen Worte der Erleuchtung ein Stück näherzukommen. Denn erst, wenn der Berg mitsamt der Erfahrung auch wieder verlassen wird, weiß der Aufgewachte, daß es nicht möglich ist, „das Aufwachen zu lehren“. Erst dann weiß er, daß es eine Erfahrung ist, die er mit niemandem teilen kann. Das Aufwachen ist kein Konzept, das man erlernen könnte, denn wäre dem so – wie gesagt –, hätten wir es längst gemeistert. Das Aufwachen ist eine Erfahrung, die durch das einsame Ringen mit sich selbst entsteht vor dem Hintergrund bzw. in der Auseinandersetzung mit dieser als so grausam empfundenen Welt.
Natürlich ist die Verlockung sehr groß, in der Betrachtungshaltung dieser übermächtigen Erfahrung stehenzubleiben. Doch ein Etwas, ein Gezogenwerden, wird ihn hier hinauskatapultieren und erneut in seine bekannte Welt hineinwerfen, zu der er jetzt lediglich eine andere Haltung, ein anders Verstehen hat, eine neue Perspektive. Jegliches Verharren in oder Beharren auf bestimmten Zuständen ist ein Stillstand.
Die köstliche Erfahrung, wenn ein großer Wunsch in Erfüllung ging – sei es der Erwerb eines Traumautos, ein verlockender Job, eine Liebesbeziehung – bleibt nicht als dauerhaftes Gefühl, denn nach kurzer Zeit verblaßt auch die schönste Erfahrung zu einer Erinnerung, da das jeweils Erreichte nun zum Alltäglichen gehört. Sitzt man immer nur auf derselben Bergspitze, wie könnte man je erfahren, daß es womöglich noch weitere Bergspitzen gibt, die man erklimmen könnte? Im „normalen Alltagsleben“ denken wir garnicht darüber nach: Wir bejubeln die Gipfelerfahrungen und empfinden die Täler als Mühsal vielleicht, aber wir ziehen weiter.
Und daher ist ein Guru, der für immer auf seiner persönlichen Gipfelerfahrung hockenbleibt nicht viel anders als jemand, der an seinem neuen Auto hängt, dieses täglich auf Hochglanz poliert, es aber ansonsten in die Garage stellt, damit es durch die Benutzung nicht beschädigt wird. Das Leben will gelebt werden. Und nur wenn der Guru von seinem Berg wieder heruntersteigt, wird er erkennen können, daß es ungezählte weitere Erfahrungen und Erkenntnisse gibt, die auf ihn warten.
(Spax 22.6.15)
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