Ist Erkenntnis mit-teilbar?

6. Juli 2016 at 00:14

Lesen-Fantasy_SNIP_ComfreakCastaneda-Text1

Mit meiner neuen Erkenntnis über die Zauberer,2 tun sie mir fast ein wenig leid. Nein, das ist falsch ausgedrückt, denn es waren vorbildliche Krieger. Und sie haben über deren System des Verstehens die großartigsten Erfolge erzielt. Aber was ich mich frage bezüglich deren Vorgehensweise ist, ob das innere Sehen, welches sie so mühevoll entwickelt haben, letztlich nicht auch hinderlich war für Erkenntnisse oder ein Verstehen, das sie sich evtl. auf anderem Wege leichter hätten erschließen können.

Die Zauberer waren wie paralysiert von den energetischen Beschreibungen und Wahrnehmungen, die die alten Zauberer3 gefunden hatten. Doch weil unser 3D-Hirn es gewöhnt ist, die Welt als etwas Dinghaftes zu betrachten, und unsere Augen uns diese Art der Wahrnehmung permanent bestätigen, neigen wir generell dazu, sämtliche inneren Erkenntnisse ebenfalls in etwas Dinghaftes zu übertragen. Manchmal ist das gut, weil wir uns hierüber etwas erklären können. Doch die gefundene Erklärung taugt ja nur für den allein, der die Erkenntnis gehabt hat. Ein anderer mit derselben Erkenntnis würde diese wahrscheinlich in andere Worte und Bilder kleiden. Wenn ich nun aber hergehe und nehme die Bilder eines anderen als Marker für ein bestimmtes Erkenntnis-Ziel, so wird mein Weg ein wenig mühsamer als er ansonsten vielleicht sein könnte, eben weil ich hierbei meine eigenen Wahrnehmungen oder Erkenntnisse stets an zweite oder fünfte Stelle setze und als nicht so relevant erachte, weil z.B. meine eigene Wahrnehmung nicht übereinstimmen mag mit dem Vorgegebenen.

Vor diesem Hintergrund wird auch ersichtlich, weshalb die Zauberer eine ellenlange Regel hatten,4 die es in jedweder Hinsicht zu befolgen und zu bestätigen galt. In diesem Zusammenhang ergibt es Sinn, daß die jeweiligen Naguals5 stets nach Nachfolge-Personen Ausschau hielten, die genau dieselbe Energiekonfiguration wie Personen der vorigen Gruppe aufwiesen: Auf diese Weise haben sie ihr Verstehenssystem über Jahrtausende kopiert.

Ich denke zum Beispiel an den Begriff des „Eagle“, der eine solch große Rolle spielt in der Sichtweise der Zauberer. Mit diesem Bild ringe ich, seit ich Castaneda zum ersten Mal gelesen habe. Welchen Unterschied macht es denn, ob ich sage: „Der Eagle verschlingt das Bewußtsein des Menschen, wenn dieser stirbt“, oder ob ich sage „Ein Gott urteilt über ein gelebtes Leben und sendet die Seele in Himmel oder Hölle“? Beide Erklärungen sind bildhafte Beschreibungen energetischer Prozesse. Dadurch aber, daß ich diese Prozesse an einem bestimmten Bild festmache und hieran verdeutliche, wird die Metapher zu einer „äußeren“ Tatsache: Ein „Etwas“ oder ein „Jemand“ hat hierbei Macht über mein Leben. Ganz gleich wie ätherisch dieses Wesen auch sein mag, ich empfinde es aufgrund dieser Sichtweise als etwas Dinghaftes, das Macht über mich besitzt. Diese Art des Denkens fokussiert meine Wahrnehmung grundsätzlich auf die Außenwelt und darauf, diese Außenwelt beeinflusse und bestimme mein Leben und Handeln. Insbesondere wenn ich innere Prozesse und Wahrnehmungen als Ding/Wesenheit definiere oder begreife, mache ich es mir schwerer als nötig. Doch diese Denkweise war über Jahrtausende vorherrschend, denn das 3D-Spiel funktioniert grundsätzlich über die Orientierung am Außen.

Eagle-2_SNIP_Alexas_FotosEs fällt uns ja nach wie vor schwer – selbst mit Meditation und all unseren Visionen – unser Leben als inneren Prozeß zu begreifen. Haben wir eine Wahrnehmung, so schauen wir sogleich, ob irgendwo jemand dieselbe gehabt hat, um sie hierdurch verifizieren zu können. Hier kommen wiederum all die zugehörigen Erklärungen ins Spiel, und diese verwenden natürlich Bilder und Metaphern. Wenn ich aber hergehe und nehme die Metaphern wörtlich, so erzeuge ich ein selbstgebasteltes Problem mit meiner Verifizierung – wenn ich z.B. feststelle, eben keinen Eagle oder Gott gesehen zu haben, keine Aura sehe oder was auch immer es ist, was der jeweilige Guru, Lehrer, Autor oder ein Glaubenssystem beschreibt. Ich stürze mich damit selbst wieder in Zweifel über die eigene Erkenntnis! Wir kleben viel zu sehr an all diesen Beschreibungen und Bildern, so sehr sind wir es gewohnt, eine Äußerlichkeit der Welt als Ausgangspunkt, als Nonplusultra zu begreifen.

Dies macht deutlich, wie sehr wir uns doch fürchten davor, „allein zu stehen“. Denn das ist es darunterliegend immer: Jeder ist allein mit seinen eigenen Erfahrungen und Erkenntnissen; sie gelten ausschließlich für einen selbst. Und erst wenn ich dies verinnerlicht habe, bin ich in der Lage, meine eigenen Flügel des Bewußtseins auszubreiten. Innere Erfahrungen teilt man ausschließlich innerlich, über das Empfinden. Und für ein solches Erleben müssen wir jenen Teil von uns wirklich wirklich loslassen, der stets an all den Erklärungen hängt! Denn jede Erklärung gehört letztlich zur Außenwelt, zu einem Denken, man könne überhaupt innere Prozesse erklären. Man kann sie nur empfinden und über die Empfindung mit anderen teilen, die dieselben inneren Erkenntnisse gewonnen haben. Anders ist ein Teilen oder Mitteilen nicht möglich. Deswegen sind wir so verwirrt mit all den zigfachen verschiedenen Erklärungen, Systemen, Herangehensweisen, Methoden, Symboliken, Metaphern etc., denn sie suggerieren uns, man müsse lediglich die „richtige Herangehensweise“, das „richtige System“ usw. finden, um zu Erkenntnissen oder ins Hier+Jetzt zu gelangen. Nichts ist ferner von der Wahrheit – denn das einzige, was je zählt für die eigene Erkenntnisgewinnung ist: die eigene Wahrnehmung und der Glaube daran!

Siehe auch Beitrag vom 6.7.16: Die Erkenntnis des Verstehens.

(Spax  6.7.16)

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Fußnoten

  1. Dies ist ein Beitrag, der sich auf die Schriften Castanedas bezieht. Möglicherweise ist der Beitrag daher nur verständlich, wenn man mit dessen Schriften vertraut ist (siehe Bücher); denn die spirituellen Lehren dieser Zauberer folgen einer ganz eigenen Herangehensweise, wobei sie sich entsprechend einer eigenen Terminologie bedienen. Da die Lehren sehr komplex sind, ist es mir an dieser Stelle leider nicht möglich, diesbezüglich in Kürze sämtliche Hintergründe und Zusammenhänge aufzuzeigen.
    Don Juan war der spirituelle Lehrer von Castaneda. Die Gruppe der Seher um Don Juan bezeichneten sich häufig als „Krieger“ oder „Zauberer“.
  2. Siehe Beitrag vom 3.7.2016: Metaphern.
  3. In der Linie der Zauberer, wie sie von Don Juan beschrieben wird, gibt es eine Teilung, derzufolge die „alten Zauberer“ bis zur Invasion der Spanier in Mexiko (1519–21) wirkten. Durch die umfassende Zerstörung ihrer Kultur entwickelten die „neuen Zauberer“ andere Ansätze und Techniken sowie ein neues Grundverständnis ihrer Lehre.
  4. Siehe unter anderem Carlos Castaneda: The Eagle′s Gift.
  5. Nagual: Aufgrund seiner energetischen Konfiguration der Leiter einer Gruppe von Zauberern.