Gedanken-Schraubstock

19. November 2017 at 04:21

Gedanken-Schraubstock-4_SNIP_790474_geraltIch wache auf, und sofort fängt das Gedanken-Radio an zu plappern. Krass! Gedanken hierzu vorhin im Bett: Man glaubt, man sei im Hier+Jetzt mit seinen Gedanken, weil sie permanent da sind!!! Permanent, andauernd, unaufhörlich ist der Strom der plappernden Gedanken. Wir kennen irgendwann nichts anderes mehr. Wie sollten wir etwas anderes annehmen? Die Automatik- Gedanken besetzen auf eine Weise unser Denken, daß wir glauben müssen, es gäbe darüber hinaus nichts anderes mehr; zwangsläufig identifizieren wir uns irgendwann mit diesen Gedanken, die uns so niederdrücken, uns im Griff haben. Und da sie uns unaufhörlich vollquatschen, müssen wir zwangsläufig davon ausgehen, sie seien das Hier+Jetzt. Wir leben ja überhaupt nicht mehr, sind nur noch in unseren Gedankenkonstrukten unterwegs. Wir vergessen darüber total, wie Leben sich eigentlich anfühlt.

Gedanken sind grundsätzlich negativ, oder? Schon weil sie Gedanken sind und ich sie als etwas „Getrenntes“ von mir wahrnehme. Dann müßte aber alles, was ich als Getrennt empfinde „negativ“ sein. Stimmt also nicht. Negativ ist immer nur meine Bewertung, mein Urteil, das ich über irgend­etwas fälle. Andauernd hab ich etwas zu meckern. Wie schwierig das jeweils ist, abzustellen! Dieser Tendenz viel früher entgegenwirken – mich mit der Schönheit verbinden, mit dem Feeling dahinter. Nicht bloß Dinge als „schön“ beschreiben und erklären, sondern dies fühlen. Es ist immer das Fühlen, das uns abhandenkommt. Da taucht doch sofort die Frage auf: Sind Kummer und Schmerz auch Gefühle? Ja, sind sie. Sobald ich derlei Gefühle empfinde bedeutet es zumindest, daß sich etwas regt in mir. Unsere Gedanken aber töten jedes Empfinden ab, weil sie sofort etwas Gesehenes oder Erlebtes bewerten.

Auch ängstigt uns die Vorstellung, wir würden unserer Gedanken ledig; wir fürchten die Stille unserer Gedanken. Denn weil wir uns identifizieren mit unseren Gedankeninhalten, haben wir das Gefühl, wir verlören unsere Identität, sobald wir nicht mehr denken. Sein ist Fühlen. Sein ist Akzeptanz. Doch wir krallen uns wie Ertrinkende an jene falsche Identität, die wir mit Hilfe unserer bewertenden Gedanken über uns selbst und über die Welt geformt haben. Das ist unsere schlimmste Abhängigkeit, und wir wissen nicht einmal darum.

Ich kann nicht aufhören, darüber zu staunen, wie zwingend dieser Prozeß ist und wie effektiv er funktioniert; wie wir über solch ein verfremdendes Konzept zu einer ganz und gar einzigartigen Weltsicht gelangen, die mit dem, was wir eigentlich sind, überhaupt nichts zu tun hat – daß wir alle Sklaven dieses Mechanismus sind.1 Ich entkomme diesem Mechanismus erst, wenn ich anfange, meine eigenen Gedanken und Gedankenstrukturen zu hinterfragen. Solange ich das nicht tu′, hänge ich fest an der Kette meiner eigenen Automatik-Gedanken.

Gegenüber-Ideen-2_SNIP-228823_geraltMan muß einen Schnitt machen. Wenn ich mich von meinen Kopfgedanken lösen will, löse ich mich hiermit auch vom Konzept der allgemeinen Weltbetrachtung. All die Definitionen, was das Leben sei, wie es zu führen sei, muß ich ablegen. Das bedeutet, ich verliere meinen Bezugspunkt. Sobald ich mich löse vom üblichen Konzept sowie der Definition meiner Welt, falle ich zwangsläufig heraus, mache mich zum Outlaw meiner eigenen Gesellschaft gegenüber. Wer will das schon?! Hinzu kommt, daß man anfangs ja noch gar keine „neue Weltbeschreibung“ hat, nach der man sich alternativ ausrichten könnte. Es ist, als würde man einbeinig auf einer sehr dünnen Eisschicht stehen mitten in einem riesigen Ozean; eine falsche Bewegung, und ich werde verschlungen von den Fluten – also bewegt man sich nicht und hält die Luft an.

Und doch stehen wir alle auf solch einer prekären Scholle und halten dies für normal, reden uns ein, sie wäre stark und sicher, ignorieren den Ozean um uns her, welcher eigentlich das Leben darstellt, haben Angst vorm Schwimmen. Da jeder auf solch einer prekären Scholle dahintreibt, unterliegen wir zudem der Illusion, wir könnten uns helfen gegenseitig und Mut zusprechen. Doch das einzige, was hierdurch erreicht wird, ist, daß wir uns dabei unterstützen, möglichst besseren Halt auf unserer Scholle zu finden. Wirkliche Hilfe aber wäre, wenn jemand uns herunterstieße von dieser Scholle, hinein ins „große Unbekannte“, ins Leben. Desillusionierung von all den Falschannahmen unseres Denkens ist die einzig reelle Hilfe, die wir je erhalten können. Don Juan hat absolut recht:

The only concrete help you ever get from me is that I attack your self-reflection.2

Die einzig wirkliche Hilfe, die du jemals von mir bekommst ist, daß ich deine Selbst-Reflektion attackiere.

Ein Lehrer kann einen aufmerksam machen auf diesen Umstand, kann uns berichten vom großen weiten Meer, kann uns an den Rand unserer winzigen Scholle führen – doch springen müssen wir allein. Wir glauben, wir würden dann untergehen und wären mutterseelenallein. Doch erst wenn wir springen, können wir die eigentliche Wahrheit entdecken. Erst wenn wir in den Ozean tauchen, geraten wir wieder ins Fühlen, erkennen, daß wir niemals „allein“ sind und stets verbunden mit allem Lebendigen. Erst wenn wir im Wasser sind, können wir erkennen, wie prekär die Situation auf unserer Scholle überhaupt gewesen ist… Aber dafür müssen wir springen. Dafür müssen wir alles loslassen. Alles. Alles, was wir zuvor für „richtig“ hielten, all unsere Konzepte über das Leben. Wir müssen unseren Denkprozeß, unsere hiermit verbundenen Identifikationen loslassen.

Wie gesagt, freiwillig kann und wird das niemand wollen. Und hierzu gehören sogar all jene neuen Gedanken über eine „neue Welt“, neue Konzepte des Zusammenlebens, neue Heilmethoden etc. Denn auch wenn die neue Ausrichtung vielleicht „menschenfreundlicher“ ist, so basiert sie momentan doch auf demselben Denkprozeß, auf denselben alten Annahmen von „besser – schlechter“, auf denselben alten Konzepten, denen ich meinen Weg als Individuum unterordne. Nichts macht uns mehr Angst als die eigene Freiheit!!

(Spax  19.11.17)

(Siehe auch Beitrag vom 21.10.17: Gefangene der Logik.)

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Fußnoten

  1. Siehe hierzu auch den Beitrag vom 13.4.17: Der Eagle.
  2. CastanedaThe Power of Silence, 178. Don Juan war der spirituelle Lehrer von Castaneda. Die Gruppe der Seher um Don Juan bezeichneten sich häufig als „Krieger“ oder „Zauberer“.