Eine Regel für Freiheit?

7. Juli 2016 at 01:45

Regel-Symbole_SNIP_GDJCastaneda-Text1

Das ist das fatale mit so Regeln: man glaubt, wenn man sie minutiös befolgt, „mache man alles richtig“. Aber es gibt immer die Ausnahmen, und man muß in Betracht ziehen, daß jeder eine Regel vielleicht anders interpretiert. Die Zauberer haben sich zu viel an solchem Kram „aufgehangen“ oder orientiert.

Aber wenn man aufgewacht ist, so müßte man eigentlich wissen, daß man es intuitiv sowieso „richtig“ macht und es sowieso kein „falsch“ gibt. All die Prämissen darüber, wie „Spirit vorgeht“, sind doch nur die Erklärungen für das, was passiert. Ich kann doch aber nicht die Erklärung als erstes setzen, also vor das Ereignis und die Erklärung zu einer Regel erheben. Es sind die Dinge, die passieren, wenn zum Beispiel solch ein aufgewachter Lehrer wie Socrates2 einen neuen Schüler findet; alle Prämissen, die die Zauberer über „das Vorgehen von Spirit“ herausgefunden haben, treffen zu – aber es funktioniert anders herum! Ein Ereignis passiert im Moment. Und in dieses Ereignis sind alle Personen und Umstände involviert, die jeder der Beteiligten für sich wahrnehmen kann.

So wie „Spirit“ bei den Zauberern jeweils beschrieben wird, hat man immer den Eindruck, es sei wie ein Wesen, das absichtlich und mit Vorsatz etwas tut, sei „Spirit“ auch noch so unerklärlich. Die Vorgehensweise, alles über solch dinghafte Erklärungen zu beschreiben, diese auch noch zu Regeln zu erheben, muß doch die SchülerInnen mehr verwirren als daß es jemandem zum Verständnis nützt. Diese Form der Erläuterungen steht fast in diametralem Gegensatz zu dem, wonach sie erklärtermaßen streben: zur absoluten Freiheit, zum Abstrakten. Die Zauberer legen sich selbst einen dicken Stein in den Weg durch derlei irreführenden Erklärungen, die einfach nichts erklären – insbesondere und explizit für die SchülerInnen, die sowieso überhaupt nicht wissen, worum es eigentlich geht und es ganz gleich mit welcher Erklärung nicht verstehen können. Und weil all die Schüler durch die immergleichen Erklärungen auf bestimmte Wahrnehmungen gepolt sind, werden sie es dann schwerer haben, ihren eigenen Wahrnehmungen über den Weg zu trauen.

Wenn man über Jahre hinweg all diese Zauberer-Geschichten gehört hat über einen „Eagle“ oder die „Vorgehensweisen von Spirit“, so wird der Schüler, wenn er aufgewacht ist, immer nach all diesen Dingen Ausschau halten, von denen er so oft gehört hat, die seine neue Weltsicht für ihn beschreiben und daher impliziter Teil von ihr sind. Es wird ihm kaum möglich sein, seine eigenen Antworten auf sein Erleben zu finden, weil er primär damit befaßt sein wird, all jene Dinge, die er von seinen Lehrern gehört hat, verifizieren zu wollen.

Freimaurer_SNIP_AntraniasSo gesehen grenzt es fast an ein Wunder, daß Castaneda letztlich für sich solch eine Entscheidung getroffen hat und mit einem Teil der Lehre an die Öffentlichkeit gegangen ist. Abgesehen davon, daß er Bücher über seine Erfahrungen geschrieben hat, hat er nach langem Ringen die „Zaubergesten“ in Tensegrity3 veröffentlicht. Ganz schön mutig finde ich. Wahrscheinlich wird er Jahre mit dieser Entscheidung gerungen haben, weil diese Tensegrity-Bewegungen bei den Zauberern – wie so vieles – ja als „geheim“ galten. Das hatten die schon sehr intus, diese Geheimniskrämerei. Ich weiß zwar, daß vieles sich um Vorsichtsmaßnahmen handelte, die für Jahrhunderte obligatorisch waren; dennoch bewirkt ein derartiges Verhalten doch zeitgleich etwas, was die Zauberer explizit „ablegen“ wollen: Es stärkt die eigene Wichtigkeit, das Ego-Selbst! („Ich bin auch ein Zauberer“ – „Ich lerne geheime Sachen“ – „Ich weiß etwas, was du nicht weißt“ usw.)

Auch war es richtig, daß Castaneda bei den Zauberern aufgenommen wurde – obwohl sie ja längere Zeit darüber beratschlagten, weil er von seiner energetischen Konfiguration her kein Nagual4 sei, wie ihn die Regel vorschreibe und daher ein „Sonderlehrplan“ für ihn entworfen wurde. Diesbezüglich wird letztlich doch recht deutlich, wie schrecklich kompliziert und auch verworren diese Zauberer manchmal waren. Mit Macht und Gewalt sollte Castaneda dann in das vorgeschriebene Schema der Regel gepreßt werden, komme, was wolle.5 Die Zauberer hatten garnicht in ihrem Konzept, daß sozusagen jeder aufwachen kann und daher seinen eigenen Weg, sein eigenes Erleben hiervon hat und deshalb seine eigene Interpretation finden muß! Bei den Zauberern ging es immer nur um die „individuelle Interpretation“ und die Einhaltung ihrer Regel.

Das alles ist ein fetter Stolperstein für jemanden, der aufwacht, denn zwangsläufig orientiert er sich an dem System, welches ihm vorgelegt wurde. Daher ist er fixiert auf bestimmte Bilder und Ereignisse, die er wahrnehmen sollte. Hierdurch wird quasi dasselbe getan, wie bei dem Vorgang, wenn wir als Kinder aufwachsen und unsere Zweitpersönlichkeit überhaupt erst entwickeln: Es wird durch all diese Vorgaben verhindert, daß ich – ganz gleich, was ich wahrnehme – meiner eigenen Wahrnehmung vertraue und für mich selbst meine eigenen Erklärungen finde. So, wie unsere Ratio sich stets um sich selbst dreht, weil sie in einer bestimmten Wahrnehmungsblase eingeschlossen ist, so sind die Zauberer in einer anderen Blase eingeschlossen, denn auch sie sind in ihrer Erwartung festgelegt auf bestimmte Ereignisse und Wahrnehmungen.

So wird Castaneda für die Lehrergruppe um Don Juan zu einer Art „Outlaw“, der nicht in das übliche Schema paßt. Die anderen Schülerinnen und Schüler, die ursprünglich zu Castanedas Gruppe gehörten, wurden später unter anderem auch deshalb fallengelassen, weil Castaneda für diese nicht der Lehrer oder „Anführer“ sein konnte, der er zu sein gehabt hätte. Und eigentlich hakt es ja schon an dieser Stelle; denn ich finde, wenn jemand ein spiritueller Lehrer ist für andere, so findet er automatisch selbst seine SchülerInnen oder die SchülerInnen finden ihn – das kann doch kein anderer erledigen! Irgendwie hat Castaneda es also letztlich geschafft, aus diesem von ihm erwarteten System auszubrechen und doch noch seinen eigenen Weg zu finden.

Springen_SNIP_MakriSilvio Manuel6 sagt, bei dem zweiten „Sprung ins Nichts“7 hätten sich die Wege der Lehrer-Gruppe und Castaneda getrennt und sie würden sich „nie wieder begegnen“. Vielleicht hat Don Juan ein wenig weiter gesehen, vielleicht hat er Silvio Manuel einfach machen lassen, weil dieser so besessen war von der Idee, daß Castaneda bezogen auf die Regel ein „Fehlgriff“ war. Ich denke, Don Juan als Nagual war durchaus davon überzeugt, daß es bei derlei Dingen keine „Fehler“ gibt; jedenfalls hat er Castaneda ganz normal alles beigebracht, was er auch jedem anderen beigebracht hätte.

Welchen Sinn, frage ich mich gerade, hat denn das Leben, wenn doch zum Beispiel diese Zauberer im wesentlichen auch nichts anderes tun, als sich mit ihrer Regel um sich selbst zu drehen? Sind sie nicht genauso besessen von deren Prämissen wie wir es ansonsten in der 3D-Welt sind? Jede Regel ist eine Einschränkung, die eine bestimmte Spielwiese markiert. Ich kann unmöglich hergehen und sagen, das eine sei besser oder vorteilhafter als ein anderes. Jeder einzelne wird letztlich in seinem eigenen Bewußtsein seine Reise des Aufwachens antreten und seine ganz persönlichen Erkenntnisse hierüber beitragen. Es ist ja nicht „falsch“, was die Zauberer gemacht haben – im Gegenteil, sie haben ihr Bewußtsein auf unglaubliche Weise erweitert; aber dennoch wie ich finde, auf eine auch einschränkende Weise. Weshalb zum Beispiel haben sie denn nicht gesehen, daß eine neue Zeit anbricht? Das muß ihnen doch klar gewesen sein – oder etwa nicht? Vielleicht waren sie so dermaßen in ihrer eigenen Welt gefangen, daß sie den Rest ihrer 3D-Welt sozusagen „vergessen“ oder ignoriert haben. Sie waren wie abgetrennt von 3D – jedenfalls den Erzählungen und Beschreibungen zufolge.

Es ist bedauerlich, daß nichts darüber verlautet, wie die Zauberer in 3D gelebt haben, mit der Welt, die sie umgibt – oder hatten sie sich, wie so viele Schamanen, aus ihr herausgezogen? Da ist z.B. die Besessenheit mit dem „Auflösen der persönlichen Geschichte“ – das Verschwinden in der Welt, ohne Fußspuren zu hinterlassen. Doch auch hier ist es eine Fehlinterpretation zu glauben, um keine Fußspuren zu hinterlassen dürfe man nicht mehr an der Welt teilnehmen und nicht mehr in ihr agieren. Denn auch hierbei geht es um einen inneren Prozeß! Ich hinterlasse keine Fußspuren, wenn ich leer bin innendrin, nicht, wenn ich mich unsichtbar mache in der Welt oder mich auf einen Berggipfel zurückziehe. Das, was die Zauberer „impeccability“ nennen, das Handeln in Wahrhaftigkeit,8 das an nichts haftet, bewirkt, daß ich frei bin innerlich und leer und deswegen keine Fußstapfen hinterlasse.

So viele Dinge bei den Zauberern sind an Äußerlichkeiten geknüpft; es ist grad so, als hätten sie auch ihre innere Wahrnehmung auf selbstgeschaffene Bilder und Erklärungen festgenagelt. Da sind Kōans9 durchaus sinnvoller: Geschichten, die keinerlei Sinn ergeben; Geschichten, die mit der Ratio nicht zu fassen sind. Auf ihre Weise waren sie ganz schön zwanghaft mit ihrem System, die Zauberer. Und genau das ist die Crux mit Systemen generell: sie nageln dich immer auf bestimmte Prämissen fest, lassen dir keinen Spielraum für Neues und spucken dich aus, wenn du den Systemregeln nicht folgst…

(Spax  7.7.16)

Siehe hierzu auch die Beiträge vom 6.7.16:
Die Erkenntnis des Verstehens und Ist Erkenntnis mit-teilbar?

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Fußnoten

  1. Dies ist ein Beitrag, der sich auf die Schriften Castanedas bezieht. Möglicherweise ist der Beitrag daher nur verständlich, wenn man mit dessen Schriften vertraut ist (siehe Bücher); denn die spirituellen Lehren dieser Zauberer folgen einer ganz eigenen Herangehensweise, wobei sie sich entsprechend einer eigenen Terminologie bedienen. Da die Lehren sehr komplex sind, ist es mir an dieser Stelle leider nicht möglich, diesbezüglich in Kürze sämtliche Hintergründe und Zusammenhänge aufzuzeigen.
    Don Juan war der spirituelle Lehrer von Castaneda. Die Gruppe der Seher um Don Juan bezeichneten sich häufig als „Krieger“ oder „Zauberer“.
  2. „Socrates“ (Soc) war der Spitzname des spirituellen Lehrers von Dan Millman.
  3. Carlos Castaneda: Magical Passes: The Practical Wisdom of the Shamans of Ancient Mexico.  (dt: Tensegrity: Die magischen Bewegungen der Zauberer; auch als DVD)
  4. Nagual: Aufgrund seiner energetischen Konfiguration der Leiter einer Gruppe von Zauberern.
  5. Carlos Castaneda: The Eagle′s Gift, Kapitel 12, S. 206 ff.
  6. Silvio Manuel war ein Zauberer aus Der Gruppe von Don Juan.
  7. Carlos Castaneda: The Eagle′s Gift, 269–272. (Siehe auch Beitrag vom 3.7.16: Metaphern.)
  8. Wahr-haftig-keit  →’  an der Wahrheit haftend  :-)
  9. Ein Begriff für einen Lehrsatz oder eine kurze Anekdote z.B. aus dem Zen-Buddhismus. Das wesentliche an einem Kōan ist, daß es nicht mit dem Intellekt begriffen werden kann. Daher dient es auf subtile Weise dazu, die Starrheit des rationellen Denkens der SchülerInnen aufzubrechen, damit diese zur Erleuchtung gelangen können.