Die Erkenntnis des Verstehens

6. Juli 2016 at 23:27

Inka-Symbol_SNIP_austinstarWieso überhaupt hat jedes Volk das Bedürfnis nach einem „Abzeichen“, einem Symbol, z.B. einer Flagge? – öh, weil es etwas symbolisiert? 😉 z.B. das Denken dieses Volkes, deren Herkunft und Abstammung. Aber was nützt einem das, wenn wir zum Beispiel jetzt, Jahrhunderte oder Jahrtausende später darum garnicht mehr wissen?

Das ist wohl auch der Grund, weshalb manche Völker ihre gesamte Geschichte weitergeben, die die Kinder auswendig lernen müssen. Doch was sagt es aus, wenn ich eine lange Namensliste all meiner Vorfahren herunterbeten kann, aber keinerlei Bezug zu diesen habe? Da ist es doch viel besser, die Stammesgeschichten weiterzugeben: alte Geschichten, die zu Legenden und Mythen geworden sind, die dennoch die Werdensgeschichte des Volkes beinhalten und weitertragen. Doch auch hierfür braucht es jemanden, der diese Geschichten auch versteht und entsprechend erzählen, weitergeben und Fragen beantworten kann; jemanden, der diese Geschichte durchdrungen hat und nicht einfach bloß Fakten herunterbetet.

Die mündliche Weitergabe von Wissen oder Geschichten ist eine heikle Angelegenheit, denn jede mündliche Tradierung muß sich zwangsläufig mit der Zeit verändern. All diese Dinge ergeben nur Sinn, wenn das Wissen, das transportiert wird auch gelebt werden kann, eine Bedeutung hat in meinem Alltag. Hat eine Geschichte oder eine Weisheit keine Relevanz für mein aktuelles Leben und meinen Alltag, werde ich sie weder in mir verankern können noch werde ich einen solchen Aspekt sinnhaft weitergeben können – wie auch, wenn er für mich keine Relevanz hat und ich bestimmte Dinge von daher garnicht verstanden habe. Wenn ich aber etwas weitergebe, das ich selbst nicht durchdrungen habe, so gebe ich Worte weiter ohne Sinn; dann kommt es für mich nicht so drauf an, wie dieser Aspekt formuliert wird, denn ich habe ihn ja eh nicht verstanden. Durch diese unbeabsichtigte Laxheit werden sich zwangsläufig Fehler in der Weitergabe einschleichen.

Worte sind ja generell tückisch! Wie häufig redet man sich die Köpfe heiß, bis man glaubt, etwas verstanden zu haben oder einen gemeinsamen Konsens findet… Doch wirkliches Verstehen erfolgt nicht über Worte, sondern grundsätzlich über eine Erkenntnis, über ein Aha-Erlebnis, und das ist immer: eine Erfahrung, ein inneres Erleben und hierüber ein Begreifen. Daher ist es unmöglich, einem anderen den Sinn einer Erkenntnis zu vermitteln, der nicht dieselbe Erfahrung gemacht hat. Nur wenn man dieselbe Erfahrung gemacht hat, kann man sich hierüber auch austauschen. Doch dann ist die jeweilige Wortwahl unerheblich, denn das Verstehen ist eine innerliche Übereinstimmung, die man teilt. Soll ein anderer etwas verstehen, was ich ihm vermitteln möchte, dem anderen aber die Erkenntnis hierüber fehlt, muß ich ihn eine entsprechende Erfahrung machen lassen. Daher stürzen all die spirituellen LehrerInnen ihre SchülerInnen wiederholt in schwierige Situationen, damit diese anhand einer eigenen Erfahrung etwas begreifen können.

Schreiben-3_SNIP_Clker-Free-Vector-ImagesAus demselben Grund ist es genauso verwirrend, wenn man Erkenntnisse oder Ereignisse niederschreibt, denn für das geschriebene Wort gilt dasselbe: Ich kann deren tieferen Sinn nicht erfassen, wenn mir die entsprechende Erfahrung zu den dargelegten Aspekten fehlt. Und selbst wenn ich die darunterliegende Erfahrung teile ist es schwierig, denn es fehlt dem geschriebenen Wort in der Regel die Emphasis, die beim Sprechen als Schwingung transportiert wird.

Vermutlich lieben wir es deshalb, uns stundenlang in all diesen intellektuellen Denkgebäuden zu bewegen, denn diese suggerieren ein rationales Verstehen, welches sich jedoch ausschließlich in der hausgemachten Logik des Denkens ereignet. Im rationellen Denkkomplex wird ein Verstehen suggeriert, sobald ich einen Gedankengang herleiten oder nachverfolgen kann. Das aber hat mit dem Leben nichts zu tun, es schult und fixiert uns lediglich auf die Ratio. Das ist mit ein Grund, weshalb wir unser rationales Denken so hoch einschätzen: Es vermittelt uns einen Eindruck von Erkenntnis und Verstehen. Doch für die alltäglichen Lebensprozesse ist das „Leben im Kopf“ hinderlich und unbrauchbar.

Und es wird noch besser: denn selbst wenn ich innerlich vielleicht eine Erkenntnis mit einem Autor oder Erzähler teile, so mag es dennoch sein, daß der Schriftsteller andere Schlüsse gezogen hat als ich; daß er seine Erkenntnis anders ausdeutet und auf andere Weise in sein Leben einbaut als ich selbst dies tu′. Es ist genaugenommen unmöglich, jemals einen anderen verstehen zu können. Man kann lediglich dessen Worte oder Erzählungen als Bereicherung oder Ideengeber für das eigene Leben, die eigene Entwicklung hernehmen. Niemals aber kann ich wissen, ob ein anderer mit seinen Worten exakt dasselbe gemeint haben mag, wie ich es für mich verstehe.

Worte sind so trügerisch. Und wir haben eine ganze Welt hierauf aufgebaut – kein Wunder also, daß wir alle mehr in unseren Köpfen leben als im Hier und Jetzt. Da sich ein übereinstimmendes Verstehen nur innerlich ereignen kann, erzielen dies nur telepathisch geschulte Gruppen.

Siehe auch Beitrag vom 6.7.16: Ist Erkenntnis mit-teilbar?

(Spax  6.7.16)

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