Der Wert des Verstandes

2. April 2016 at 01:54

Denken-Grafik-7_SNIP_geraltDie Vergangenheit – Serafim, einer von Socrates′ Lehrern1 sagt, sie sei wie ein Bilderbuch, sie sei für ein künftiges Erleben nicht von Belang. Man könne sich Szenen oder Bilder „aufheben“ wie in einem Fotoalbum oder Bilderbuch, in dem man blättert, wenn man einmal Lust dazu hat. Bashar2 sagt dasselbe: Die Vergangenheit bestimme nicht unsere Zukunft und nicht einmal unser Jetzt! Könnten wir von der Vergangenheit lassen und unserer Vorstellung, sie hinge an uns wie ein Furunkel, hätten wir auf jeden Fall bessere Chancen, uns schneller eine zuträglichere Zukunft zu erschaffen. Von daher sei es wohl grundsätzlich besser, sich auf ein Künftiges zu richten, denn worauf ich fokussiert bin, dort werde ich landen.

All unsere Erfahrungen, die in der „Vergangenheit“ bzw. „im ewigen Jetzt“ liegen, sind bereits durchlebt und ausgedrückt. Und in den jeweiligen Momenten, wo wir Dies oder Jenes durchlebt haben, hatten wir währenddessen bestimmte Gefühle und Gedanken, aber die sind vorbei, sobald die Situation vorbei ist. Es ist immer: Jetzt.

Wir haben Schwierigkeiten mit diesem Konzept oder vor allem, das Jetzt zu empfinden, weil wir unser gesamtes Leben über Vergangenes definieren. Sobald wir einem anderen etwas über uns erzählen, sind wir bereits in der Vergangenheit. Auf diese Weise definieren wir unsere Person, unsere Persönlichkeit – über alles, was wir irgendwann einmal erlebt haben.3 Interessant hieran ist ja, daß wir uns an kaum etwas aus unserer frühesten Kindheit erinnern können, an jene Zeitspanne, in der wir noch vorwiegend im Jetzt leben. Dieser Teil entschlüpft uns, weil unser Denkhirn noch nicht ausgeprägt war und damit unsere Zweitpersönlichkeit, die unter anderem für diese Art der Reflektion zuständig ist.

Das fasziniert mich. Denn es ist ja so, daß wir, um wieder das Jetzt empfinden zu können, die Zweitpersönlichkeit und unsere Selbst-Definition, die hierüber stattfindet, ablegen müssen, wenn wir beispielsweise aufwachen wollen. Aber wie es aussieht, ist unsere „aktive Erinnerung“ an derlei Ereignisse genau an diese Art des antrainierten Denkens und Reflektierens gebunden. Das bedeutet, daß unser Denkhirn für die Bewertung und Einschätzung unserer Welt, unserer Taten darin sowie unserer Persönlichkeit verantwortlich ist. Wir können nicht reflektieren ohne unseren Denkprozeß. Das Nachdenken und das Erkennen von Zusammenhängen funktioniert über diese Form des Nach-Denkens.

Sind wir im ewigen Jetzt, so pflücken wir unsere Erkenntnisse spontan aus unserem inneren Wissen heraus, denn es ist dann das, was wir sind. Wir wissen all diese Dinge, ohne darüber nachdenken zu müssen, so wie all die Channelwesen dies tun, selbst wenn sie nie als Mensch gelebt haben. Obwohl: Diejenige Person, die eine Wesenheit channelt ist ja jeweils ein physischer Ausdruck eben jenes Channelwesens; sie teilen sozusagen ein Higher Self miteinander. Inwiefern unterscheidet sich nun unsere Erkenntnisfähigkeit in der Physis von jener einer gechannelten Wesenheit – oder irgendeiner anderen, die im ewigen Jetzt sich ausdrückt, die ebenfalls all diese Dinge weiß? Jede Erkenntnis ist für uns wie eine Blüte, die sich in uns entfaltet. Doch die Channelwesenheit Abraham4 war bisweilen genauso ergriffen, wenn sie zu einer neuen Ausdrucksform gelangt sind, einem neuen Beispiel, eine bestimmte Sache zu verdeutlichen. Doch auch deren Erkenntnis erfolgt ja z.B. über die Fragen, die ihnen gestellt werden, die an ihnen ziehen und vielleicht hierdurch ebenfalls ein Erkennen erwecken, weil Abraham nach einer Antwort suchen. Es ist nicht so anders wie wir es hier auch tun, wenn wir eine Lösung suchen und so lange an jene unsichtbare Mauer stoßen mit unseren Fragen, bis wir eine Antwort erhalten.

Ausrufezeichen_SNIP_geraltDie Frage bleibt, ob eben all diese Antworten nicht schon längst im Gesamtbewußtsein vorhanden und verankert sind. Sind wir überhaupt in der Lage, etwas Neues zu erkennen? Oder hat jeder nur seine spezielle Weise, das, was erkannt wurde, zu erklären? Und indem ich es einem anderen erkläre, erkläre ich es mir selbst. Doch in dem Augenblick, wo ich eine Frage formuliere, bin ich in meinem persönlichen Bewußtsein bereits getrennt von Allem-was-Ist. Das bedeutet per se, daß Alles-was-Ist ebenfalls beides ist: Frage und Antwort, Sein und Getrennt-sein. Es bedeutet, daß sogar Alles-was-Ist nach Antworten der „eigenen Existenz“ sucht und sich auf gewisse Weise selbst „getrennt fühlt“ von einem „Anderen“ in das es eingebettet ist.

Und dieses Erkennen eines noch Größeren als Alles-was-Ist ist nicht möglich für uns, solange Alles-was-Ist nicht selbst dorthinein aufgewacht ist. Denn da alles, was besteht und existiert, ein Teil ist von Allem-was-Ist, können wir selbst nur jene Teile erkennen, die sind. So, wie wir also hier eine Erkenntnislücke haben, die wir unser „Unbewußtes“ nennen, hat auch Alles-was-Ist eine solche Erkenntnislücke, denn sonst könnten wir so etwas auch selbst nicht haben. So ist das in allem Existierenden angelegt: dieser Drang, Fragen zu stellen, die Suche nach umfassenderen Antworten, welche längst schon in uns angelegt, jedoch verborgen sind. Und Alles-was-Ist ist längst aufgewacht zur eigenen „Selbst-Erkenntnis“, denn wir können das auch.

Doch zurück zum Thema der Vergangenheit. Der uns antreibende Aspekt ist also die Suche nach Erkenntnis, die Suche nach Antworten auf unsere Fragen des Seins und des Selbst. Erst indem wir unser Selbst negieren, dessen Fähigkeiten und Ausdrucksmöglichkeiten, erst indem wir so tun, als gäbe es all dies nicht, trennen wir uns vom ursprünglichen Wissen sowie von unserem Erleben in und als Einheit. Erst indem wir uns vom Erleben des Eins-seins trennen, ist es möglich, einen Blick hierauf zu werfen. Und diesen Blick kann nur die Zweitpersönlichkeit entwickeln, jene von uns erzwungene künstliche Persönlichkeit, die sich aus diesem Grund als ein Getrenntes definiert.

Von daher kann ich nicht behaupten, daß es in unserem Leben „nur“ darum gehen kann, Erfahrungen zu machen und alles mögliche auszuprobieren, denn das genügt uns nicht. Dieser Ansatz genügt demjenigen Selbst, das sich als Einheit empfindet, z.B. Channelwesenheiten oder auch ganz kleinen Kindern. Doch hinter all unseren Erfahrungen liegen die Fragen nach unserem Sein. All things strive5 – auch ein Baum, ein Wurm, ein Stein, Alles-was-Ist; denn alles ist Bewußtsein, und Bewußtsein strebt nach (Selbst)Erkenntnis. Doch es ist die Erfahrung des Getrenntseins erforderlich, um überhaupt die Fragen erkennen zu können, die uns untendrunter antreiben. Denn solange ich bin, ist alles gut und ich lebe spontan in meinem Ausdruck. Automatisch werde ich auch hier immer wieder neuen Dingen folgen, die mich „ziehen“ und die ich ausdrücken oder ergründen will. Aber man wird sich niemals die Frage nach dem Selbst, nach dem „Ich-bin“ stellen, denn es ist ja das, worin man wurzelt.

Gesichter-Skulptur_SNIP_redlodyasWir benötigen also unsere Zweitpersönlichkeit, um einen Blick auf unser Selbst werfen zu können. Und wir erschaffen unsere Zweitpersönlichkeit rigoros, indem wir „unsere wahre Herkunft“ negieren und uns daher unser Sein absprechen bzw. das ursprüngliche Lebensgefühl, welches es mitbringt. Daher resultiert gleichfalls unsere Angst vor Autoritäten, denn dieses Training in eine Empfindung des Getrenntseins kann nur gewaltsam erzeugt werden. Gewalt, indem ich einem Kind, einem Wesen, das noch ganz verbunden ist mit seinem Seinszustand genau dieses Empfinden austreibe. An Stelle des Einheits-Empfindens wird nun der Verstand gesetzt mit all seinen Erklärungsmodellen, seinen Bewertungen, den Unterscheidungen von „Gut“ und „Böse“. Durch die Bewertungen lerne ich, etwas anderes für Gut und Richtig zu halten als wie es mir eingewurzelt ist. Diese Form des Trainings über Autoritäten (Eltern etc.) erzeugt Angst, denn es folgen Strafen, wenn das Kind nicht gehorcht. Zeitgleich wird dem Kind ohne Unterlaß beschrieben, wie die Welt ist und wie das Kind sie zu sehen hat. Hierdurch entsteht unsere innere Zweigeteiltheit von Intuition und Verstand.

Doch wir benötigen einen ausgebildeten Verstand, um die Erklärungen für all unsere Fragen zu finden, um letztlich über jene Distanziertheit des Verstandes und der Zweitpersönlichkeit das Selbst als das erkennen zu können, was es ist. Das Erstaunlichste an diesem Prozeß ist, daß dieses Erkennen sich letztlich nicht über den Verstand ereignet, sondern indem ich Momente der Einheit erlebe, in denen ich mich mit dem Selbst identifiziere und nicht mit der Zweitpersönlichkeit. Das letztliche Erkennen des Selbst ist eine Erfahrung, keine Erklärung. Aber um uns diese Erfahrung im Nachhinein erklären zu können, benötigen wir unseren Verstand. Wenn die Zweitpersönlichkeit geschockt ist und vermutlich zeitgleich verzückt in einem solchen Moment des Erkennens, wird sie, um ein derartiges Erlebnis begreifen zu können, fast unweigerlich auf das Wesentlichste zurückgreifen, was sie all die Jahre gelernt hat: ihren Verstand zu gebrauchen und dessen Fähigkeit, Vergleiche anzustellen.

Eigentlich wird uns Menschen erst in einem solchen Augenblick des Erkennens die Existenz unserer beiden Seinsweisen bewußt. Und weil es sich so viel besser anfühlt, im Zustand des Seins zu leben als im Zustand des Getrenntseins, formulieren wir Sätze wie „folge deinem Herzen“. Aufgrund dessen fangen wir dann an, unser Denken, unseren Verstand und unsere Zweitpersönlichkeit zu „negieren“ oder zu verachten, weil wir erkennen, daß diese künstlich erschaffene Struktur eben nicht unser Sein ist. Doch das „sein im Sein“ liefert uns nicht die Erklärungen, die wir suchen, sondern nur Ahnungen hierüber und ein Wohlgefühl bezüglich unserer Existenz – was natürlich vollkommen okay ist, denn schließlich ist es unser naturgegebener Zustand, doch es klärt unsere Fragen über das Sein nicht.

Wirklich ein sehr schräges und faszinierendes Spiel, das wir hier spielen. Von daher muß ich sagen, es gibt ein „unbewußtes Sein“ (wie die kleinen Kinder es noch haben) und ein „bewußtes Sein“, das sich erst einstellt, wenn wir aus der Getrenntheit, die wir in unserer Persönlichkeitsstruktur erzeugt haben, aufwachen. Dieses Aufwachen hat durch die vorherige Entwicklung des Verstandes den Bonus des Erkennens: Uns wird der Seinszustand bewußt, weil wir ihn erst durch den Vergleich mit unserem Zustand des Getrenntseins als einen anderen erkennen können.

Die Vergangenheit dient also stets der Verfestigung unserer Zweitpersönlichkeit, weil ich dadurch, daß ich unaufhörlich vor mir wiederhole, was ich bin oder getan habe, meine erlernte Denkstruktur verfestige und bestätige. Die gute Nachricht ist: Ich muß meinen Verstand und mein Denken nicht aufgeben, wenn ich aufwache oder im Seinszustand – im Jetzt – leben will, denn es ist der Verstand, der mir sowohl Antworten als auch Erklärungen liefert; und zwar jeweils im Rückblick, in der Reflektion über irgendein Erlebnis oder Ereignis. Doch der Verstand kann nicht das Sein ersetzen, er kann es nur erklären. Bleiben wir auf den Verstand fokussiert, so vergessen wir zu leben und Erfahrungen zu machen. Negieren wir den Verstand zugunsten des Seinszustandes, gehen wir im Erleben auf, aber finden keine Erklärungen über uns oder unser Sein. Uns Menschen macht beides aus, uns treibt die Suche nach den Antworten. Das Paradox ist: Sobald wir bewußt im Sein leben, ist das Erleben zeitgleich die Erklärung, es ist nicht getrennt vom Sein. Doch um diese Erkenntnisse für unser physisches Leben – und ggf. darüber hinaus – nutzen zu können, muß wiederum der Verstand sie für uns übersetzen in Worte und Begriffe, die wir verstehen.

(Spax  2.4.16)

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Fußnoten

  1. „Socrates“ war der Spitzname des spirituellen Lehrers von Dan Millman. Einen Teil der Lebensgeschichte von Socrates erzählt Millman in dem Buch The Journeys of Socrates, HarperOne 2005 [2006] (engl.). [Dt. Ausgabe z.B.: Dan Millman, Socrates – Der friedvolle Krieger, Heyne 2007.]
  2. Bashar ist eine von Darryl Anka gechannelte Entität, die auf Essassani/Eshakani beheimatet ist.
  3. Wie ich an anderer Stelle aufgezeigt habe, wird durch diesen Vorgang auch die Zeit definiert (siehe Beitrag nichts war einmal…).
  4. Abraham ist eine von Esther Hicks gechannelte nichtphysische Entität. Da es sich hierbei um den Ausdruck einer Gruppen-Identität handelt, sprechen sie von sich immer in der Mehrzahl.
  5. Engl.: „Alle Dinge sind bestrebt“ (wir würden vielleicht sagen „…streben nach Entwicklung“).