Der Wert des Reisens

25. November 2015 at 01:35

Spiegelung-Wasser-Burg_SNIPHa, aber das stimmt, der Messner hat recht: Man kommt sich total albern vor, wenn man eine große Reise antritt, den ersten Schritt tut.1 Vielleicht fühlt man sich so blöde dabei, weil man ganz genau weiß, daß man etwas „nutzloses“ tut, etwas, das nicht wirklich vonnöten oder „notwendig“ wäre. Daher reisen all die Völker nicht – wozu? Erkenntnisgewinn und Neugier zählt ja nichts seit Jahrhunderten, sondern nur das Schuften, die Leistung, etwas für die Gemeinschaft zu tun. Doch das tun Reisende ja auch; Reisende bringen Erkenntnisse zurück, neue Erfahrungen.

Aber das ist dann wirklich eigenartig, denn ein Reisender kann seine Erfahrungen gar nicht wirklich teilen, wenn er wieder zurückkehrt. Denn all diejenigen, die nicht reisen, wissen nicht, wovon der Reisende spricht, wenn er z.B. sagt, daß es keinen wirklich „schönen Ort“ gäbe, sondern jeder Ort sozusagen gleich ist, weil dein Leben nur dort stattfindet, wo du dich befindest. Denn es liegt nicht an einem Ort, ob du dich gut fühlst oder schlecht, es liegt immer an dir. Hat man derlei Erfahrungen nicht als eigene Erkenntnis gewonnen, hören sie sich an wie Plattitüden. Für jeden Daheimgebliebenen hören sich derlei Erkenntnisse an wie Dinge, die er selbst, der Daheimgebliebene, doch schon immer weiß und wußte; das ist schlußendlich genau der Grund, weshalb er ja garnicht fort muß – wozu? Ein Reisender, der heimkehrt, wird seine Erkenntnisse niemandem vermitteln können. Aber genau das ist ja wiederum das Wesen einer Erkenntnis oder einer Erfahrung: Man hat nur dann etwas davon, wenn man sie selbst erlebt.

Daher werden all diese Erfahrungen, die jemand gemacht hat, bei den Daheimgebliebenen lediglich ein verständnisloses Kopfschütteln hervorrufen und womöglich eine Haltung, die bestenfalls widerspiegelt „Nagut, jetzt hast du deinen Spleen ausgelebt, nun bist du wieder hier und kannst dich wieder einreihen – und nützlich machen.“ Ja, das ist immer sehr wesentlich, diese Nützlichkeit! Und nützlich ist nur etwas, wenn es a) Geld einbringt, b) sonstwie auf praktische Weise der Gemeinschaft dient oder c) Ruhm erwirbt für die Gemeinschaft – oder wenn man jedenfalls seine Arbeitskraft zur Verfügung stellt. Der Wert einer Reise ist unverständlich.

Wir haben das Reisen mittlerweile integriert als Kulturgut: Wenn man „hart gearbeitet“ hat, darf man sich auch eine zeitlang erholen hiervon. Von daher haben wir mittlerweile eine kollektiv legitimierte Form des Reisens etabliert. Allerdings eben nur unter der Voraussetzung, daß du zuvor „hart gearbeitet“ hast; und also mit deiner eigenen Arbeitskraft einen Beitrag geleistet hast, etwas erwirtschaftet hast. Wie sonst auch sollte jemand sich eine Reise finanzieren können? Als „Nichts-nutze“ und „Tauge-nichtse“ wurden Reisende oft beschimpft: Jemand, der nicht mit an der Wirtschaftsschraube dreht, ist generell „zu nichts nütze“.

Reisen-1_SNIPDoch gottseidank haben auch in früheren Jahrhunderten manche ihrer Neugier und ihrem Reisedrang nachgegeben – und mit welch erstaunlichen Geschichten kamen sie zurück! Was hätten wir je über die Welt um uns herum erfahren, wenn nicht ab und zu ein Reisender durch unser Dorf gelaufen wäre! Auch der Handel ist und war seit langer Zeit eine „legitimierte Form“ des Reisens. Doch Reisen aus reiner Neugierde oder weil man bereits die eine oder andere vage Geschichte vernommen hat? Nein, das ist nicht legitimiert. Legitim ist auch, wenn man nach seiner Reise ein Buch schreibt. Andere können dieses Buch kaufen, was in gewisser Hinsicht eine Legitimation für das Reise-Abenteuer verschafft.

Ein Reisender wird genauso wenig die ewige Frage nach dem „Warum“ beantworten können wie z.B. ein Bergsteiger. Alle möglichen Gründe werden aufgezählt, nur der wesentlichste verschwiegen, weil dieser in der Gemeinschaft nicht legitimiert ist: „Weil ich diese Idee habe! Weil dieser Drang in mir ist! Weil es mich zieht! Weil ich diese Erfahrung machen möchte!“

Ich selbst finde immer wieder genau jene Reisen am schönsten, die kein Ziel haben; wo ich jeden Tag und oft jeden Augenblick überlegen muß, wohin ich meinen nächsten Schritt setze. Denn nichts ist hierbei vorgegeben, außer vielleicht eine festgelegte Zeit des Urlaubs. Habe ich mir ein bestimmtes Ziel gesetzt, so ist die Reise für mich bereits eingeschränkt. Auf der anderen Seite grenzt ein Ziel deinen Fokus ein und weitet ihn zeitgleich: Zum einen ist es nicht vollkommen wahllos, wohin ich meinen nächsten Schritt setze, ach ja, und zum anderen scheint ein bestimmtes Ziel in gewisser Hinsicht meine Reise zu legitimieren. Die Aussicht auf ein Ziel hin lenkt dann meinen nächsten Schritt, und wenn ich ein bestimmtes Ziel verfolge, so will ich natürlich auch irgendein Ergebnis erhalten.

Habe ich ein Ziel, so kann ich auch scheitern. Habe ich kein Ziel, so kann ich nicht scheitern! Aber das ist ja auch wiederum so eine Sache: Die Daheimgebliebenen werden fragen, was es mir gebracht hat! Habe ich zuvor ein Ziel formuliert, so ist es einfach: Wurde das Ziel erreicht, so war man Erfolg-reich, hat man es verfehlt, so ist man gescheitert. So simpel ist die rein objektive Lage aus Sicht des Betrachters. Man selbst jedoch wird immer bereichert sein, ganz gleich, ob man das gesetzte Ziel nun erreicht hat oder nicht. Ist man „gescheitert“, hat man ja fast schon die Legitimation für die Unternehmung verwirkt, jetzt soll man sich rechtfertigen dafür. Schrecklich. Weil ein Ziel greifbar ist, ist es also immer auch an-greifbar. Ein bestimmtes Ziel schwächt daher schon meine Ausgangsposition, weil nicht nur die Daheimgebliebenen, sondern ebenfalls all die Stimmen in meinem Kopf gemeinsam auf dieses Ziel hinschauen und dessen Erreichung. Das macht Druck.

Dampfer-Titanic_SNIP-2_BREITESehr interessant, denn dies zeigt ja deutlich, wie sehr wir die Prämissen unserer Leistungsgesellschaft verinnerlicht haben! Und Leistung arbeitet immer auf irgendein bestimmtes Ziel hin. Interessante Frage: Wenn ich kein Ziel habe, ist es dann möglich, eine Leistung zu vollbringen? Objektiv gesehen würden wir sagen „Ja“, denn ist z.B. ein Fußmarsch von 2.000 km eine bestimmte Form der Leistung, die anerkannt wird. Aber für mich selbst wäre es keine „Leistung“, denn ich hatte mir dieses Ziel ja nicht gesetzt. Es hat sich quasi so ergeben, als ich spontan mal einen Fuß nach links und mal einen Fuß nach rechts gesetzt habe, ohne groß darüber nachzusinnen, welches Ergebnis die eine oder die andere Richtung bringen könnte. Latscht man Ziel-los durch die Gegend, ist man bereits Vagabund, Gammler oder Globetrotter – je nach Draufsicht der Daheimgebliebenen. So jemand leistet nichts!!! Da haben wir ihn wieder, den Nichts-nutz, den Tauge-nichts.

Es ist somit unmöglich, als Ziel-loser etwas zu leisten (!), denn man selbst gibt sich doch ausschließlich dem eigenen Vergnügen hin. Und unsere Definition lautet: Vergnügen ≠ Leistung. Leistung – z.B. Arbeit – muß weh tun, hart sein und ein Ziel haben, andernfalls findet sie keine Anerkennung!!! Ich weiß garnicht, wie oft ich beispielsweise im Annapurna-Buch der Frauenexpedition2 diesen Satz gelesen habe: „Wir haben/Sie hat sehr hart gearbeitet!“ Irgendwann dachte ich mir, ich kotze, wenn ich diesen Satz noch ein einziges Mal lesen muß. All diese Zusammenhänge zeigen jedenfalls sehr deutlich, was genau hinter dem zielstrebigen Leistungsdenken steht: der ewige Wunsch nach Anerkennung.

Ein Ziel ist also einschränkend. Und was hinzukommt: Du denkst permanent daran, es zu erreichen. Das bedeutet, daß die Aufmerksamkeit zweigeteilt ist in a) ich habe ein bestimmtes Vorhaben formuliert (z.B. der Ausgangspunkt einer Reise) und b) der Erreichung dieser Ankündigung (das Ziel). Dies ist ein weiterer einschränkender Punkt: Denn indem ich permanent während meiner Unternehmung auf das Ziel hin starre, geht mir das direkte Erleben verloren. Nirgendwo ist mir dies stärker aufgefallen als bei Altmanns Reise von Paris nach Berlin, die er zu Fuß gemacht hat.3 In meinem Leben habe ich kein gehetzteres Buch gelesen als dies! Jeden Tag das Kilometerzählen, wie viel man bereits „geschafft“ und also ab-gearbeitet hat!

Hat man kein Ziel formuliert, so fällt dies alles weg und man hat Zeit und Muße, sich wirklich und wahrhaftig auch im Hier+Jetzt zu befinden, wo auch immer dies grad sein mag. Mit einem Ziel bin ich stets beschäftigt damit, es zu erreichen – wie könnte ich dabei zu hundert Prozent in ein Jetzt fallen?, ich blicke ja ständig in die Zukunft. Natürlich wird es auch Momente geben für jemanden, der mit einem Ziel reist, wo er mal ins Jetzt fällt – zumeist, wenn der Körper sich meldet, zwickt und kneift oder man sich verletzt hat. Doch dann gilt es ja jeweils nur, dieses „Ding“, was meinen Körper darstellt, wieder zu „reparieren“, damit ich halt eben mein Ziel erreichen kann. Ich frage mich, wie „klein“ oder „ohnmächtig“ sich all diese Personen fühlen mögen, wenn man ihnen ihr Ziel fortnimmt… Welch wesentlicher Teil unserer Gesellschaft doch solch ein Ziel ist! Ohne dies würde unsere gesamte Gesellschaft zusammenfallen. Sehr erstaunlich, wirklich.

Ein Ziel verhindert, daß wir abstürzen – in die Orientierungslosigkeit. Was folglich zu einem ganz anderen Themenkomplex führt: Wie treffe ich Entscheidungen? Und worüber definiere ich einen Sinn in meinem Leben?

(Spax 25.11.15)

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Fußnoten

  1. Reinhold Messner: Gobi – Die Wüste in mir, Fischer 2005.
  2. Arlene Blum: Annapurna – Die erste Frauenexpedition auf einen der höchsten Gipfel der Erde, Pietsch-Verlag 1982 [1980].
  3. Andreas Altmann: 34 Tage / 33 Nächte – Von Paris nach Berlin zu Fuß und ohne Geld, Malik 2006.