Das große Gefühl

19. April 2017 at 20:12

Bewußtsein-Flow_SNIP_pixel2013Wesentlich ist, daß ich mich an das Gefühl erinnere, mich weit mache innerlich und verletzbar. Und genau das ist der Grund, weshalb ich das Gefühl habe, Canada1 sei nochmal ein Bruch in meiner spirituellen Entwicklung gewesen: Denn in Canada habe ich es absichtlich wieder abgelegt, das große weite Gefühl, weil es mir „künstlich“ erschien, weil ich es willentlich erzeugen konnte. Da wußte ich offenbar noch nicht, daß ich alle Gefühle mehr oder weniger absichtlich in mir erzeuge und erzeugen kann. Das, was ich als mein grundlegendes „Getrenntsein“ betrachte, gründet sich ja auf Automatikreaktionen bezüglich irgendwelcher Gedanken, die ich habe – und diese Automatikreaktionen haben wir dermaßen verinnerlicht, daß wir sie für normal halten.

Aber ich selbst bin zuständig und verantwortlich für meine Stimmung und Gefühle. Jederzeit. Immer. In dieser Klarheit war mir das damals nicht deutlich. Und deswegen war „das Gefühl“ fort, als ich aus Canada wiederkam. Und ohne dieses spezielle Gefühl sind wir wie Automaten. Ohne das Gefühl habe ich wieder vermehrt Ich-ich-ich-Gedanken, kehrt die Sorge wieder ein um die eigene Person. All die alten Muster werden wieder in Gang gesetzt. Und das ist insgesamt der Grund, weshalb ich stets das Empfinden habe, daß ich seit Canada irgendwie überhaupt garkeinen Fuß mehr auf den Boden kriege. Es liegt ja nicht an all den Sachen, die ich mache, nein, es geht immer und überall darum, ob ich das Gefühl fühle oder nicht. Und wenn es halt so ist, daß ich es willentlich erzeugen kann, so ist das zumindest ein Anfang! In und mit diesem Gefühl bin ich verbunden – ganz gleich bei welchem Tun.

Das ist gut zu wissen, denn es macht das Einüben meiner inneren Ausrichtung vielleicht ein wenig einfacher; denn ich kann mich glaube ich ganz gut an dieses Gefühl erinnern und es, indem ich mich daran erinnere, auch wieder erzeugen, anstatt permanent auf meine wilden Affengedanken zu achten. Es gehört beides dazu, ich kann beide Ausrichtungen für mein Training nutzen: den Fokus auf die Gedankenstille wie auch auf das Gefühl.

Ich glaube, genau über dieses Thema habe ich vor ein paar Jahren auch schonmal geschrieben. Weshalb vergesse ich all dies so schnell wieder? Vergesse meine eigenen Erkenntnisse am nächsten Tag, als seien sie nie dagewesen. Wodurch kommt denn das? Ist es einzig meinem gewohnten Denken geschuldet, das mich automatisch wieder in meine Befindlichkeiten zieht, meine Beschäftigung mit Ich-ich-ich?

Mädchen-Ballon-Liebe-SehnsuchtVorhin habe ich mich gefragt, ob nicht auch das Aufwachen bzw. sämtliche einschneidenden Erlebnisse und Erkenntnisse in unserem Leben alle bereits auf unserer Lebenslinie so angelegt sind – wie bestimmte Meilensteine, die wir vorab (vor der Inkarnation) selbst auf unsere Lebenslinie gesetzt haben. Diesen Eindruck habe ich ja oft, wenn ich vor allem mit den spirituellen Dingen befaßt bin. Und ich glaube auch nicht, daß letztlich all die Übungen, die ich mache, mich wieder in einen verbundeneren Zustand bringen, sondern allem voran mein Fokus, mein Wunsch, meine Sehnsucht danach, die mich zieht, von der ich mich ziehen lasse.

Doch wenn die Sehnsucht je erfüllt sein sollte und man „wunschlos glücklich“ wäre und sich dann einfach nur passiv in diesen Zustand hineinfallen läßt, so landet man wieder in der 3D-Gedanken-Realität. Deshalb triggert Don Juan2 zum Beispiel bei sich selbst immer wieder dieses spezielle Gefühl an, diese leichte Sehnsucht, weil er sich hierüber erstens ziehen lassen kann und zweitens sich hierüber mit dem Gefühl verbindet. Deswegen nennt er diesen Zustand oder Prozeß einen „runner ahead“,3 weil man selbst etwas als Köder auswirft, von dem man sich dann ziehen läßt. Damit man nicht stehenbleibt. Damit man sich nicht wieder einfach einfangen läßt von eigenen Gedanken oder Befindlichkeiten. Denn das Glück bleibt nie stehen, es ist in jedem Augenblick neu. Ein Augenblick kann nicht wiederholt werden! Und das Glück, es steckt im Augenblick, nicht in der Erinnerung daran. Daher fließt man immer weiter, bewegt sich weiter und weiter mit jedem Augenblick, anstatt aus dem Fließen auszuscheren, um einen gerade eben existierenden Augenblick festhalten zu wollen und der Gefahr des „indulging“, des Anhaftens, der Trägheit, zu unterliegen. Denn nur im Augenblick ist das Glück!

Faust:  Werd ich beruhigt je mich auf ein Faulbett legen,
So sei es gleich um mich getan!
Kannst du mich schmeichelnd je belügen,
Daß ich mir selbst gefallen mag,
Kannst du mich mit Genuß betrügen –
Das sei für mich der letzte Tag!
Die Wette biet ich!

Mephistopheles:  Topp!

Faust:  Und Schlag auf Schlag!
Werd ich zum Augenblicke sagen:
Verweile doch! du bist so schön!
Dann magst du mich in Fesseln schlagen,
Dann will ich gern zugrunde gehn!
Dann mag die Totenglocke schallen,
Dann bist du deines Dienstes frei,
Die Uhr mag stehn, der Zeiger fallen,
Es sei die Zeit für mich vorbei!4

Deswegen wirft der Krieger die Angel aus, um das Gefühl zu nähren und sich über eine kleine Sehnsucht ziehen zu lassen. Denn solange wir inkarniert sind, werden wir nie insgesamt im hundert-Prozent-Bliss-Zustand sein, denn „das geht nur im Nichtphysischen“, wollte ich gerade schreiben, aber das stimmt ja nicht, denn Tiere und Pflanzen sind stets im hundert-Prozent-Bliss-Zustand. Also Korrektur: Man läßt sich ziehen, und verbindet sich mit dem Gefühl, damit der Mind5 möglichst wenig die Chance hat, uns wieder einzufangen und in die Ödheit und Eintönigkeit seines Gedankennetzes zu ziehen.

Das ist die Haltung eines Kriegers: stets wachsam. Und wie ein Jäger durch Übung Kniffe ersinnt, um eine Beute zu erlegen, so jagt der spirituelle Krieger sich selbst – nicht um etwas zu erlegen, sondern um die Fallen zu umgehen. Bleibt der Krieger stehen, hat er in seiner Wachsamkeit nachgelassen; dann hat er verloren, und die schönen Gefühle verbrauchen sich wie Klopapier bei Durchfall.

Ameisenbär-Ameisen-lustig_orange_SNIP_Clker-Free-Vector-ImagesNicht also sind es all die unliebsamen Empfindungen, Gefühle und Situationen, die uns am meisten zu schaffen machen, denn sie spornen uns an, unsere geistige Ausrichtung wieder zu korrigieren; nein, es sind die Bliss-Gefühle,6 all das Wunderbare, die angenehmen Empfindungen, die uns dazu verleiten, in unserer Aufmerksamkeit nachzulassen, eben weil sie uns das Gefühl vermitteln, „endlich beim Glücklichsein angekommen“ zu sein. Doch es genügt eben nicht, einfach einen Zustand des Glücklichseins zu erreichen, sondern diesen noch weiter auszudehnen, ihn innerlich zu halten. Und das ist gleichsam damit gemeint, wenn gesagt wird, ein Krieger sei nie „untätig“ – es bezieht sich nicht auf Aktionen in der 3D-Welt, sondern auf unsere geistige Wachheit, die nicht erschlaffen darf.

Wie Gewichte fällt es von den Schultern, sobald wir innerlich loslassen, ausatmen, und uns in jenen Mantel des großen und weiten Gefühls hüllen, des Gefühls der Verbundenheit – nicht um darin zu schwelgen, sondern um sich selbst und die eigene Verbundenheit mit Allem wieder zu spüren. Nur durch dieses Gefühl erlangt meine Welt wieder Leuchtkraft. In diesem Moment wie im nächsten, in dem ich das Gefühl bewußt hervorbringe.

Das ist so schwer zu beschreiben, weil es eine innerliche Gratwanderung ist: Wann falle ich hinein in dieses Gefühl, an welcher Stelle aber fange ich an, es wieder festhalten zu wollen?! Das genau bedeutet die Wachsamkeit des Kriegers: Trotz der schönen Gefühle auch den nächsten Schritt zu tun. Es hört sich an, als wäre dies keine brauchbare Erklärung. Und das mag stimmen, denn um das Paradox verstehen zu können, muß man es am eigenen Leib erfahren und einüben, umsetzen. Denn erst dann bekomme ich einen Eindruck von all den Fallstricken, die in uns selbst, die mit unserem Ich-ich-ich, mit unserer Identität, mit unseren Befindlichkeiten, verwoben sind.

(Spax  19.4.17)

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Fußnoten

  1. In 1998 war ich für ein paar Monate nach Kanada ausgewandert.
  2. Don Juan war der spirituelle Lehrer von Castaneda. Die Gruppe der Seher um Don Juan bezeichneten sich häufig als „Krieger“ oder „Zauberer“.
  3. runner ahead (engl.): wörtlich ein „Vorausläufer“. Don Juan läßt sich, um dieses spezielle Gefühl zu erzeugen beispielsweise Gedichte vorlesen.
  4. Johann Wolfgang von Goethe: Faust I, Kapitel 7.
  5. mind (engl.): Verstand, Ratio, unser Denkapparat (siehe auch Zweitpersönlichkeit).
  6. bliss (engl): höchste beseelte und oft rauschhafte Gefühle von Glückseligkeit.